TARQUINIO MERULA Su la cetra amorosa

Hespèrion XXI, Jordi Savall, Montserrat Figueras

15,99


Reference: AVSA9862

  • Jordi Savall
  • Montserrat Figueras

Gemeinsam mit Luigi Rossi, Francesco Cavalli und Giacomo Carissimi gehört Tarquinio Merula zur Generation der zwischen 1595 und 1605 geborenen Komponisten, für die der konzertierende Stil nicht mehr ein neuartiges Idiom war, sondern dasjenige musikalische Medium, das sie von Kindheit an als die herrschende Musiksprache ihrer Zeit kennengelernt hatten. Geboren 1595 in Bussetto, hatte er seine musikalische Ausbildung vermutlich an der Kathedrale von Cremona erhalten und wechselte – nach Anstellungen als Organist im lombardischen Lodi und am polnischen Königshof in Warschau – von 1626 an mehrfach zwischen den Kapellmeisterstellen an den Hauptkirchen von Cremona und Bergamo.

Wahrend Rossi, Cavalli und Carissimi den Zenith ihrer Laufhahn erst um die Mitte des Jahrhunderts oder danach erreichten, gab Merula den größten Teil seiner Werke zu einer Zeit in Druck, als die überragenden Komponisten der vorangegangenen Generation, Claudio Monteverdi und Alessandro Grandi (als dessen Nachfolger er übrigens nach Bergamo berufen wurde), das Musikleben in Italien noch entscheidend prägten. Bereits 1622 veröffentlichte Merula eine heute nicht mehr erhaltene Sammlung von Sologesängen und 1638 – Monteverdis berühmtes 8. Madrigalbuch erschien im gleichen Jahr – eine zweite Solosammlung unter dem Titel Curtio precipitato ed altri Caprici als letzten von insgesamt sieben Banden mit weltlicher Vokalmusik. Abgesehen von der Ciaccona aus dem 2. Madrigalbuch von 1633 stammen alle Vokalkompositionen der vorliegenden Aufnahme aus diesem Band, der als op.13 bei dem Drucker Bartolomeo Magni in Venedig verlegt wurde.

In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts hatte das Interesse des Publikums an jenen im „stile recitativo“ vertonten hochexpressiven Solomadrigalen oder dramatischen Szenen, die im ersten Vierteljahrhundert Furore gemacht hatte, bereits deutlich nachgelassen. Entgegen der Forderung einiger Theoretiker, in der Vokalmusik dürfe die Musik nur Dienerin des Wortes sein, suchten die jüngeren Komponisten nach einem ausgewogeneren Verhältnis von Wort und Musik, in dem die deklamatorischen und expressiven Errungenschaften der neuen Epoche mit einem neuerwachten Interesse an formaler Konstruktion und musikalischer Geschlossenheit verknüpft wurden. Dies zeigt sich bei Merula bereits in der Wahl der Textvorlagen: In den erhaltenen Solowerken verzichtet er fast vollständig auf die bis dahin vorherrschenden, formal zumeist irregulären Madrigaltexte und bevorzugt stattdessen klar gegliederte, häufig nicht in der klassischen Dichtkunst vorkommende strophische Textformen.

Ein besonderes Beispiel für den zuweilen spielerischen Umgang mit der Tradition auf formaler wie inhaltlicher Ebene bildet Quando gli ucelli portaranno i zoccoli, eine Canzonetta in sdrucciolo: Zwar handelt es sich um vier Oktavenstrophen, also um die klassische Form der epischen Dichtung, doch lässt der unbekannte Verfasser die Verse mit der holpernden, der komischen Dichtung entstammenden Gleitversendung (sdrucciolo) schließen und vollzieht so auch auf formaler Ebene die beabsichtigte Transformation von hohem in niederen Stil nach, die den Inhalt kennzeichnet. Hier werden nämlich preziöse, manieristische Metaphern, die Unmöglichkeit ausdrücken sollen (von der Art: erst wenn die Flüsse die Berge hinauf flossen) und in der zeitgenössischen Lyrik häufig anzutreffen sind, aus der höfischen bzw. pastoralen Sphäre in ein bäuerliches Milieu übertragen (erst wenn die Hunde keine Hoden mehr hatten), wo sie darüber hinaus durch ihre fast unendliche Aneinanderreihung eine ausgesprochen komische, fast schon absurd anmutende Wirkung erzielen. In der Vertonung verzichtet Merula weitgehend auf eine musikalische Ausdeutung einzelner Bilder, sondern vertraut der komischen Wirkung der überstürzten Deklamation wie auch der immer wiederkehrenden, ostinat punktierten Betonung der drittletzten Verssilbe. Dennoch gewinnt die durchaus reale Verzweiflung des Sängers in den mehrfach wiederholten Schlussversen des Stücks endgültig die Oberhand.

Wahrend Merula in der Sdrucciolo-Canzonetta die vier Strophen in einer zweiteiligen Form durchkomponiert, handelt es sich bei der vierteiligen Canzonetta Menti lingua bugiarda um eine verdeckt strophische Vertonung; zwar weisen die vier Teile eine Reihe von Unterschieden hinsichtlich Melodieverlauf und Deklamation auf, doch sind dies nur Abweichungen eines strophischen Grundmusters, die wie aufgeschriebene Improvisationen wirken. Hier wie auch in den übrigen echten Strophenliedern herrscht ein fast ausschließlich syllabische Deklamation vor, die auf Koloraturen, madrigalistische Wortausdeutung und Verzierungen verzichtet. Die volksliedhaften Melodien wie in Folle eben che si crede oder Un bambin che va alla scuola werden durch rhythmische Unregelmäßigkeiten, wie etwa unerwartete Hemiolenbildung, in ihrem anscheinend durchgängig tänzerischen Fluss gehindert. Tatsächlich auf einem bekannten zeitgenössischen Volkslied, der Girometta, basiert die Melodie von Sentirete una canzonetta, ein Stück, das durch seine Bordunbegleitung und die dialektalen Einsprengsel wie das Ständchen eines der komischen Akteure aus der Commedia dell’arte wirkt, der die Nase, den Mund und das Goldhaar einer grausamen Angebeteten besingt.

Befremdlich für ein heutiges Publikum ist das unmittelbare Nebeneinander von derart derben Capricci mit Stücken moralischen oder betrachtenden Inhalts in derselben Sammlung, doch gehörte für Zeitgenossen weltliche Lebensfreude und das Reflektieren über die Vergänglichkeit aller Dinge fast unauflöslich zusammen. Chi vuol ch’io m’inamori ist eine geistliche Betrachtung über die Vergeblichkeit irdischer Liebe (den Text hat auch Monteverdi für seine Selva morale vertont), den weltlichen Canzonetten durchaus verwandt in der eingängigen Melodik, doch verweisen Geradtaktigkeit, herbe dissonante Durchgänge und unvermittelte Tonartenwechsel auf den ernsten Charakter. Von außergewöhnlicher Expressivität ist die andere Canzonetta spirituale der Sammlung, ein Wiegenlied „sopra alla nanna“, mit dem Maria das Jesuskind in den Schlaf singt. Das Wiegenmotiv, aus zwei Tönen im Abstand eines Halbtonschritts bestehend, dürfte gleichfalls der Volksmusik entstammen und bildet als ostinater Bass die Grundlage für strophische Variationen in der Singstimme. Merula vertont die Meditationen Marias über das künftige Schicksal ihres Kindes wie eine kleine dramatische Szene, denn in den beiden letzten Textstrophen, nachdem das Kind eingeschlafen ist, endet der Basso ostinato und ein Rezitativ tritt an seine Stelle.

Die Verwendung der Ciaccona als Bassmodell in Su la cetra amorosa hat ähnlich wie das Wiegenmotiv in Hor ch’è tempo di dormire eine inhaltliche Bedeutung, steht sie doch für das Spiel jenes unglücklichen Liebhabers, der auf seiner Liebesleier, der „cetra amorosa“, immer neue Lieder der Liebe singen muss. Formal gesehen ermöglicht die Ciaccona als ostinater Bass den Zusammenhalt einer in fast extremer Weise mannigfaltigen Komposition, deren Abschnitte ohne ein derart starkes Band jeden Zusammenhalt zu verlieren drohten: überraschende Wechsel von Dur und Moll, Betonung extremer Lagen in der Singstimme, Kontrast von äußerst virtuosen und getragenen Passagen mit langen Haltetönen, jähe emotionale Ausbrüche, halsbrecherische Deklamation insbesondere in den Battaglia-Abschnitten und nicht zuletzt eine stets erneut irritierende rhythmische Freiheit der Singstimme gegenüber dem seinerseits schon vieldeutigen, synkopierten Rhythmus der Ciaccona, der immer wieder eine neue Ausdeutung durch die Gesangsstimme erfährt.

Gerade in seinen solistischen, durchkomponierten Ostinatokompositionen verwirklicht Merula sehr überzeugend ein neues Verhältnis von Wort und Musik, eine Art der Balance zwischen expressiver und zuweilen dramatischer Wortausdeutung sowie einer musikalisch geschlossenen Form, die auch Komponisten wie Martino Pesenti, Niccolò Fontei und Giovanni Felice Sances in den dreißiger und vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts vorrangig beschäftigte. Dass die Entwicklung der weltlichen Vokalmusik in Italien in der Folgezeit mit der klaren Trennung von Rezitativ und Arie eine andere Entwicklung genommen hat, lässt die Werke aus dieser Zeit des Experimentierens nicht weniger faszinierend erscheinen.

JOACHIM STEINHEUER

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