MARIN MARAIS Suitte d’un Gôut Etranger, Pièces de Viole IV Livre

Jordi Savall

17,99


Ref: AVSA9851

  • Jordi Savall
  • Pierre Hantaï
  • Philippe Pierlot
  • Xavier Díaz-Latorre
  • Rolf Lislevand
  • Andrew Lawrence-King
  • Pedro Estevan

 


Gegen 1959 entdeckte ich die Existenz des Komponisten Marin Marais und seiner Stücke für Gambe. Damals war ich 17 Jahre alt und studierte Cello seit etwas über zwei Jahren. Da ich von Natur her neugierig bin, befand ich mich bereits auf der Suche nach unbekannten Werken, nach Musikstücken, die sonst niemand kannte. In Barcelona fand ich im Musikgeschäft namens „Casa Beethoven“ an der berühmten „Rambles“ Nr. 97 eine Suite in d-moll, die mir sehr interessant erschien und von Christian Döbereiner für Cello arrangiert und 1933 von Schott & Co. veröffentlicht wurde. Ich erinnere mich daran, dass ich mich sofort vom sehr eigenartigen Charakter der verschiedenen darin enthaltenen Stücke verleiten ließ – Prélude, Sarabande Grave, Paysanne, Charivary und ganz besonders die Couplets des Folies d’Espagne. Was mich an all diesen Melodien faszinierte, die ich nach und nach entdeckte und mir anschließend sehr vertraut wurden, wie jene von François Couperin, Caix d’Hervelois, August Kühnel, Jan Schenk, Christopher Simpson, Diego Ortiz und natürlich die drei Sonaten von J.S. Bach für Gambe und Cembalo, war der deutliche Geschmack einer alten, unbekannten Welt, die jedoch voller Leben, Lyrik und Phantasie und somit hoch aktuell war.

Einige Jahre später kam ich einen Monat nach Beendigung des Cello-Studiums von einem Musikaufenthalt in Santiago de Compostela, wo ich mich gemeinsam mit dem Cembalisten Rafael Puyana mit barocker Kammermusik auseinandergesetzt hatte, im Sommer 1965 nach Barcelona zurück. Er riet mir, Gambe spielen zu lernen, das eigentliche Instrument, wofür jene Stücke geschrieben wurden, die ich am Cello spielte. Auf dem Weg nach Barcelona notierte ich in meinem Terminkalender: „Gambe suchen“. Bei meiner Ankunft erwartete mich eine große Überraschung: Enric Gispert, Leiter des Ensembles für alte Musik Ars Musicæ, wünschte mit mir zu sprechen. Er schlug mir vor, mir eine Gambe zu leihen, sollte ich daran interessiert sein, dieses Instrument ernsthaft zu erlernen. Er bat mich, für die Vorbereitung einer Gambengruppe sowie für Konzerte und Aufnahmen mit seinem Ensemble zusammen zu arbeiten. Später erfuhr ich, dass Montserrat Figueras, die in diesem Ensemble sang und am Konservatorium Cello studierte, die Aufmerksamkeit des Leiters Enric Gispert auf einen jungen Cellisten gezogen hatte, der Bach und das Barock-Repertoire recht gut spielte. Dies war eine weitere entscheidende Begegnung, die von da an ein grundlegender, untrennbarer Teil von all jenem war, was in menschlicher und musikalischer Hinsicht schöpferisch in meinem Leben erfolgte.

Im folgenden Jahr, als ich mein erstes kleines Konzert (mit Musikstücken von Diego Ortiz) gab, traf ich im März 1966 Wieland Kuijken, der sich ebenfalls in Barcelona für die Aufführung einer Passion von Bach aufhielt. Im darauf folgenden Sommer verbrachte ich bei ihm vierzehn sehr ertragreiche Tage zur Bearbeitung von Stücken für Gambe, bevor ich nach London verreiste, um das englische Repertoire am British Museum zu studieren. Doch noch im April hatte ich in jenem prachtvollen Frühling 1966 die Ehre, einen kurzen Aufenthalt in Paris zu genießen, während dessen ich an der Bibliothèque Nationale über Musik für Gambe recherchierte. Es war eine ertragreiche und ereignisvolle Woche, während der ich tagsüber das Gambe-Repertoire und nachmittags und abends jene Frau kennen lernte, die ein Jahr später meine Gattin wurde. Nach neun Jahren des Cello-Studiums ging ich mit 24 Jahren an mein erstes Studienjahr der Gambe im Selbststudium heran, doch ich war bereits überzeugt, dass zum erfolgreichen Erlernen dieses Instruments, das über 150 Jahre in Vergessenheit geraten war, eine direkte Annäherung an die von den großen alten Meistern hinterlassenen Zeugnissen von grundlegender Bedeutung war.

Ich wusste, dass Marais ein interessanter Musiker war, ich kannte auch einige seiner Stücke, doch damals (1960-64) war ich mir der wahren Dimension seiner Produktion für Gambe noch nicht bewusst. Ein vollkommen neuer Horizont öffnete sich, als ich unter den verschiedenen Sammlungen von M. De Machy, Caix d’Hervelois, Antoine Forqueray, François Couperin und anonymen Manuskripten das mehr als 500 Stücke umfassende Werk von Marin Marais entdeckte. Die Möglichkeit, dieses gemeinsam mit den anderen handgeschriebenen oder gedruckten Stücken für Gambe zu studieren, die in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrt sind, ermöglichte mir, die Bedeutung seines Werks sowie die unglaubliche Vielfalt und den Reichtum an Information festzustellen, die darin zur Technik enthalten war – Fingersatz, Artikulation, Finger- und Bogenführung sowie Ausführung, Verzierung, Vibrato, Betonung, Phrasierung, usw. So wurde mir bewusst, welch große Ungerechtigkeit diesen wunderbaren Stücken widerfahren war, die in der tiefsten Vergessenheit dahin schlummerten. Mich überkam das Gefühl, dass meine neun Jahre Cello soeben dahin waren und ich praktisch bei null beginnen musste.

Zehn Jahre lang war die Musik von Marin Marais meine bedeutendste Inspirations- und Arbeitsquelle. In dieser Zeit erfolgten zahlreiche Begegnungen und Musikveranstaltungen: 1968-70 Studium an der Schola Cantorum in Basel (Prof. August Wenzinger), 1973 folgte ich meinem Professor an der selben Schule nach, 1974 Gründung von Hespèrion XX (mit Montserrat Figueras, Hopkinson Smith und Lorenzo Alpert), usw. Doch bezüglich der unmittelbaren Auswirkung auf meine Annäherung an das Gambespiel ist meine Begegnung 1972 mit Geneviève Thibault, Gräfin von Chambure sowie ihre großzügige Entscheidung hervorzuheben, nachdem sie mir bei einer Sonate von Bach mit Rafael Puyana zuhörte, mir eine ihrer Bassgamben aus ihrer Privatsammlung zu leihen. Somit kamen plötzlich alle Nuancen zum Tragen, an denen ich umgehend arbeitete, wie der „Bogenstrich in der Luft“ oder das „Ausklingen des Tons“ – die Geschmeidigkeit und Einfühlsamkeit dieser siebensaitigen Bassgambe von einem anonymen französischen Instrumentenbauer aus dem 18. Jahrhundert ermöglichten auf natürliche Weise die abertausenden Nuancen, die die Musik von Marin Marais forderte. Und fast drei Jahre später konnte ich im Juli 1975 dank der Initiative von Michel Bernstein mit seiner neuen Sammlung Astrée „Deffence & Illustration de la Musique Française“ mit dieser alten Gambe in der kleinen romanischen Kirche zu Saint Lambert des Bois die erste dem Werk von Marin Marais gewidmete Schallplatte (AS 4) mit einer Auswahl aus Stücken für Gambe aus dem zweiten Buch (Folies d’Espagne, Suite in h-moll und Les voix humaines) aufnehmen. Sechs Monate später (Dezember 1975) folgten die Stücke für Gambe von François Couperin (AS 1) und im Januar 1977 bereits eine erste Auswahl aus 12 Stücken für Gambe der Suitte d’un goût Etranger des IV. Buchs (1).

Dank der Arbeit aller Gambisten, Musiker und Musikwissenschaftler, die dafür gesorgt haben, dieses unermessliche, wunderbare Erbe in unserer Zeit wieder aufleben zu lassen, haben Marin Marais und die Gambe mit der Zeit aufgehört, eine große Unbekannte in der Musik zu sein. Hierbei möchte ich einen besonderen Beitrag hervorheben, nämlich den des außergewöhnlichen Films Tous les matins du monde nach dem Roman von Pascal Quignard, bei dem Alain Corneau mit außergewöhnlichem musikalischem Fingerspitzengefühl Regie führte und für den mir die Aufgabe und Ehre zuteil wurde, die Musik zu spielen. Diesem ist es zu verdanken, dass Millionen Menschen weltweit Zugang zu einer Musik gefunden haben, die bis dahin allzu geheim gehalten geblieben war.

Heute, dreißig Jahre nach dieser ersten Aufnahme 1977, habe ich beschlossen, auf diese außergewöhnliche „Suitte d’un goût étranger“ zurückzugreifen und sie zur Gänze mit ihren 33 Stücken in der Überzeugung aufzunehmen, dass sie die Essenz und die umfassendste Perspektive der Kunst von Marin Marais bietet – eine Kunst, die sich schlussendlich von den klassischen Regeln loslöst, hat doch die „Suitte“ kein Vorspiel und zählt sie lediglich zwölf Tänze, darunter einige ganz besondere: die „Allemande“ bildet das Thema, die Gigue das Basso, Allemande l’Asmatique, La Singulière (3-stimmig), La Bizare, La Superbe, Gigue la Caustique. Marais verlässt dabei auch die Basstonalität und lässt sich wie in Le Labyrinthe auf eine Wanderung zwischen den damals vielfältigsten und extremsten Tonalitäten ein – von Es-dur über e-moll, E-dur, G-dur, C-dur, a-moll, A-dur, D-dur, d-moll, F-dur, f-moll und fis-moll zu Fis-dur. Dabei wird eine überraschende Vielfalt an Ausdrucksformen dargeboten, die von den einfachsten und ironischen (La Tourneuse, La Sauterelle), bäuerlichen (Feste Champêtre, Muzette) und komplexen (Caprice oder Sonate, La Minaudière) über die ausgereiftesten (Le Labyrinthe, L’Arabesque), spektakulärsten (La Marche Tartare, Le Tourbillon) und zutiefst bewegenden Gefühle (La Reveuse, L’Amériquaine) bis hin zum Badinage am Ende reicht, das trotz seines Namens sehr geheimnisvoll und recht wehmütig erscheint.

Diese „Suitte“, aus welcher der zweite Teil seines IV. Buchs besteht, ist speziell den fortgeschrittensten Gambisten gewidmet, wie Marin Marais selbst erklärte: „Die im Gambespielen Bewanderte werden Stücke vorfinden, die ihnen zunächst sehr schwierig vorkommen mögen, mit etwas Umgang und Übung jedoch rasch vertraut werden. Ich habe sie auch komponiert, um die Fertigkeiten jener in Anspruch zu nehmen, die keine Vorliebe für einfache Stücke haben, sondern vielmehr die schwer auszuführenden vorziehen.“ Auf Grund der Einzigartigkeit ihrer Darstellung, der Kühnheit ihrer Effekte und der Anpassung der verschiedenen, diese „fremden Geschmäcker“ vertretenden Eigenheiten sucht diese Suite im Repertoire des Barocks ihresgleichen. Die extreme Virtuosität vieler dieser Stücke steht im Gegensatz zur scheinbaren Schlichtheit und Gefühlstiefe von Momenten wie La Rêveuse und Le Badinage. Doch dank stets ausgereifter und fein erarbeiteter Harmonien, dank kühner, scharfer Rhythmen und vor allem einem Klang in einer sehr reinen und natürlichen melodischen Linie vermögen sie, stets lebhaft und anmutig zu erscheinen – eine Anmut, „schöner als die Schönheit“, die in La Fontaines Worten „in der Seele durchklingt, um sie durch und durch zu erschüttern“. Beim Üben, Spielen, Aufnehmen und Zuhören dieser wunderbaren Musik ist die Gerechtigkeit der posthumen Lobschrift umso verständlicher, die Evrard Titon du Tillet 1732 Marin Marais widmete (2): „Man kann behaupten, dass Marais die Gambe zum höchsten Grad der Vollkommenheit brachte, und dass er der Erste war, der auf Grund der zahllosen ausgezeichneten Stücke, die er auf diesem Instrument komponiert hat, sowie der bewundernswerten Weise, wie er darauf spielte, dessen gesamte Bandbreite und dessen ganze Schönheit ausgeschöpft hat“.

JORDI SAVALL
Bellaterra, Sommer 2006

(1) Die weiteren, den anderen Büchern gewidmeten Auswahlen wurden im April 1978 (erstes Buch), März 1983 (fünftes Buch) und Januar 1992 (drittes Buch) ebenfalls in Saint Lambert des Bois aufgenommen.
(2) Zit. in Vie de musiciens et autres joueurs d’instruments du regne de Louis le Grand.

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