MARIN MARAIS Alcione Suites des Airs à joüer (1706)

Jordi Savall, Le Concert des Nations

Alia Vox Heritage

15,99


Refèrencia: AVSA9903

  • Jordi Savall
  • LE CONCERT DES NATIONS

Am 18. Februar 1706 wurde die musikalische Tragödie Alcione zum ersten Mal in Paris, im Theater des Palais Royal aufgeführt. Sogleich eroberte sie sich die Herzen des Publikums. Es war Marin Marais´ größter Erfolg. Der damals schon fünfzigjährige Komponist hatte den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Er war gerade zum Nachfolger André Campras in der Oper ernannt worden, um „den Takt zu schlagen“, das heißt, die zahlreichen Sänger und Musiker auf der Bühne oder im Orchester zu dirigieren.


Am 18. Februar 1706 wurde die musikalische Tragödie Alcione zum ersten Mal in Paris, im Theater des Palais Royal aufgeführt. Sogleich eroberte sie sich die Herzen des Publikums. Es war Marin Marais´ größter Erfolg. Der damals schon fünfzigjährige Komponist hatte den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Er war gerade zum Nachfolger André Campras in der Oper ernannt worden, um „den Takt zu schlagen“, das heißt, die zahlreichen Sänger und Musiker auf der Bühne oder im Orchester zu dirigieren.

Bevor er diese neue Stelle mit der Aufführung der Oper Alcione antrat, war der ehemalige Schüler Sainte-Colombes bereits seit 1676 als Gambist bekannt geworden. Der talentierte Instrumentalist spielte im Orchester des Pariser Théâtre Lyrique sowie am französischen Hof, im Rahmen der Musique du Roi, und leistete seinen Beitrag zu manchen großartigen Interpretationen von Lullys Werken. Sehr schnell wurde Marais der Schützling des Meisters und begann, außer zahlreichen Violenstücken auch Opern zu komponieren: eine Idylle Dramatique, die in Versailles 1686 und dann 1693 gespielt wurde, Alcide, eine in Zusammenarbeit mit Lullys Sohn Louis komponierte Oper, Ariane et Bacchus aus dem Jahr 1696, zehn Jahre später Alcione und schließlich Sémélé, deren Misserfolg ihn dazu führte auf die Komposition jeglicher Bühnenwerke zu verzichten.

Nur für die Wiederaufführung von Alcione nahm er 1719 noch einige Partituränderungen vor. Nach Marais´ Tod im Jahr 1728 wurde das Werk 1730, 1741, 1756, 1757 und 1771 inszeniert: ein Beweis seines unleugbaren Erfolges.

Alcione, wie auch Alcide, Ariane et Bacchus und Sémélé, folgt dem von Lully eingeschlagenen Weg Es handelt sich um eine musikalische Tragödie aus fünf Akten und einem Prolog. Das von Ovids „Metamorphosen“ beeinflusste Thema regte der Autor des Librettos, Antoine Houdar de la Motte, an. Bei der Beschreibung vieler Episoden hielt er sich treu an die antiken Quellen, besonders bei der Schilderung des dramatischen Sturms im vierten Akt.

Nach einer Schäferszene, in der Apoll zusammen mit den Musen, den Wasser- und Waldgottheiten, den Schäfern und Hirten den Ruhm Ludwigs XIV. besingt, beginnt das eigentliche Operndrama: die Feier der Hochzeit von Äols Tochter, Alkyone, mit Keyx, dem König von Trachis, in den sie verliebt ist. Das Fest wird zunächst von den aus der Hölle fahrenden Erynnien gestört. Vor der Höhle, wo er seine Hexerei vorbereitet, teilt der Zauberer Phorbas dem unglücklichen Bräutigam mit, dass er die Geliebte verlieren und danach auch sterben wird, es sei denn, er befrage das Orakel Apolls in Klaros. Der unglückliche König folgt diesem Rat, der in Wirklichkeit „das Unglück, das er vermeiden will, herbeiführt“ und schifft sich im Hafen von Trachis ein: ein Vorwand für ein malerisches Fest mit tanzenden Matrosen. Nach Keyx´ Abfahrt schwinden Alkyone vor Schmerz die Sinne. Untröstlich, bringt sie Juno im Tempel ein Opfer, um die Hilfe der Götter zu erflehen. Nun tritt der Schlaf auf, “hingestreckt auf einem Mohnblumenlager und von Dämpfen umgegeben“. Morpheus zeigt Alkyone im Traum „eine drohende See, in der ein Schiff versinkt“. Unter der Mannschaft erscheint Morpheus in Gestalt von Keyx und ruft leidenschaftlich um Hilfe, „bevor ihn die Fluten verschlingen“. Der Albtraum schreckt die unglücklich Liebende aus dem Schlaf. Verzweifelt versucht sie, sich den Tod zu geben. Doch Phosphorus, der Vater ihres Mannes, nähert sich auf seinem Stern und verkündet die Rückkehr seines Sohnes. Der für immer verloren Geglaubte erscheint, leblos auf dem Gras liegend. Da Alkyone von seinem Tod überzeugt ist, stößt sie sich Keyx´ Schwert in die Brust. Die Tat bleibt allerdings folgenlos, weil Neptun aus den Fluten steigt und dem Paar das Leben zurückgibt. Von nun an werden die Geliebten für die Stille der Fluten verantwortlich sein. Diese glückliche Auflösung bietet erneut den Vorwand zu einem prächtigen Divertissement mit Tänzen der Meeresgottheiten.

Wie bei anderen musikalischen Tragödien der Epoche spielt auch hier der Orchesterpart eine große Rolle. Als bedeutender Instrumentalinterpret widmete Marin Marais den instrumentalen Teilen besondere Aufmerksamkeit und erreichte darin eine bisher unbekannte Verfeinerung, wovon man sich anhand der für die vorliegende Einspielung getroffenen Auswahl überzeugen kann.

Dem Beispiel der damals in ganz Europa verbreiteten Suiten folgend, sind hier die Tänze aus den Prologen und den Diverissements der verschiedenen Akte versammelt. Eine traditionelle Ouverture à la française geht ihnen voran. Die Ouvertüre zu Alcione vermittelt eine besondere Dramatik. Schon in den ersten Takten hört man, nach einem eindrucksvollen Oktavsprung in der Melodie der oberen Stimme, einen höchst dissonanten Sekundenakkord von großer dramatischer Spannung in der düsteren D-moll Tonart. Diese eigenartige Kraft findet man auch im letzten Satz, in dem der Rhythmus atemlos und durch lange Pausen abgehackt wirkt, bevor die Bass-Stimme bis zur letzten Kadenz vorprescht. In diesen theatralischen Teilen entfaltet Marais seine ganze Kunst als Komponist instrumentaler Musik und verflicht gekonnt und auf eindrucksvolle Weise die fünf Stimmen miteinander.

Die Tänze folgen der von Lully geprägten Tradition: Gigues, Sarabanden, Passepieds, und Menuette. Ein Menuett fungiert sogar als Zwischenakt während eines Bühnenwechsels. In der großen Chaconne des letzten Akts bleibt Marais nicht hinter seinem berühmten Vorläufer zurück. Ihm gelingen sowohl in rhythmischer als auch in melodischer Hinsicht besonders einfallsreiche Variationen. Die Episoden für fünf oder drei Stimmen, drücken bald eine ausgeglichene Heiterkeit, bald spritzigen Überschwang, bald eine sanfte Melancholie oder auch erstaunliche Poesie aus. In dem Schäfer- und Schäferinnenmarsch des Prologs bereichert der Komponist das Modell Lullys und gibt eine Vorahnung von Jean Philippe Rameaus Meisterwerken. Wenn er auch das traditionelle Rohrblatt-Trio mit Oboen und Fagotten verwendet, um die pastorale Stimmung stärker zu betonen, so spielt er doch auch mit der Nachahmung der Hirtenschalmei, indem er kräftige Dissonanzen auf dem Orgelpunkt der Tonika einführt und unmerklich von der Moll- zur Durtonart übergeht, wodurch das Orchester plötzlich schwankend und zögernd wirkt. Die Welt der fêtes galantes unter der Regentschaft Ludwigs XV. zeichnet sich schon ab.

Um dem Geschmack seiner Zeitgenossen zu schmeicheln, folgt Marin Marais nicht nur der sogenannten Schäfermode. Er verwendet auch in mehreren seiner Tänze sehr eingängige Melodien, die nach einer ersten instrumentalen Interpretation von einem Sänger und meistens vom Chor gesungen werden. Im Prolog singen zum Beispiel zwei Schäfer zwei Menuette; im ersten Akt singen die Äolinnen und das Gefolge von Keyx eine Sarabande; im dritten Akt schließlich erklingt der berühmte Marsch der Matrosen, der mehrmals für verschiedene Instrumente umgeschrieben wurde, sich dann in England ausbreitete, im neunzehnten Jahrhundert einen englischen Text bekam und ein beliebtes Lied wurde. Man darf sich sogar fragen, ob diese Melodien nicht schon lange bekannt waren und aus dem Volkslied-Repertoire stammen, da sie so leicht zu erinnern sind.

Komplexer sind die Passagen der Orchestermusik, die nichts mit dem Ballett zu tun haben. Das Präludium und das Ritornell, die den dritten und auch den letzten Akt eröffnen, sind in dieser Hinsicht bemerkenswert. Das erste Stück führt eine der schönsten Arien der Partitur ein, nämlich den Gesang des Peleus „Oh mer dont le calme infidèle“ (O See voll trügerischer Stille). Er stellt durch lang angehaltene Noten und Dissonanzen ein Gefühl der mit heiteren Momenten vermischten Traurigkeit her, das den gesungenen Worten entspricht. Das zweite Stück erstaunt vielleicht noch mehr durch die Intimität, die es herzustellen vermag. Das besinnliche, von Innerlichkeit geprägte Werk, ist für ein Trio geschrieben, als wäre es Kammermusik. Ein einziges Thema wird von den drei Stimmen entwickelt, wobei die melodische Linie Alkyones Einsamkeit und Verwirrung auszusprechen scheint.

Die für Alcione komponierten deskriptiven Symphonien bieten zu diesem Ritornell einen atemberaubenden Gegensatz. Sie beeindrucken durch die Macht des Orchesters, das an keinem der in der Epoche zur Verfügung stehenden Mittel spart. Die Symphonie des Schlafes erinnert an Lullys Atys: die Flöten spielen noch in der Terzlage und treten besonders gut hervor, wie auch die Bass-Stimmen, sobald sie einen expressiven Satz spielen und von den anderen Streichern sanft begleitet werden. Trotz des Dreiertakts weicht Marais vom Modell seines Vorläufers ab. Seine Komposition erinnert nicht mehr, wie es noch bei Atys der Fall ist, an die italienischen Schlafstücke von Rossi oder Cava1li; sondern sie drückt eine sehr französische Eleganz aus, dank der melodischen Zeichnung der hohen Stimmen, die raffiniert ausgefeilt und reich ornamentiert sind.

Auf die vom Schlaf mitgebrachte Ruhe folgt der berühmte Sturm. Der Erfolg dieser Symphonie war so riesig, dass einige Kritiker von Alcione behaupteten, „die neue Oper“ hätte „ohne sie Schiffbruch erlitten“. Auch wenn dies sicherlich übertrieben ist, so muss man doch anerkennen, dass Marais keine Mühe gescheut hat, um das Naturphänomen zu beschreiben und nachzuahmen. Er fügte einen Kontrabass hinzu, ein Instrument das zum ersten Mal in der Partitur einer französischen Oper erschien. Er verlangte „ständig wirbelnde leicht gespannte Trommeln“ um ein düsteres und dumpfes Geräusch zu schaffen, das zusammen mit den schrillen und gellenden Tönen der Violinenquintsaiten und den Oboen die Wut einer stürmischen See und eines zornig donnernden und pfeifenden Windes nachahmte. Es war aber nicht das erste Mal, dass ein Komponist das Schlagzeug in solch deskriptiver Funktion verwendete. Pascal Collasse hatte das schon 1689 in seiner musikalischen Tragödie Thetis et Pelée getan. Doch sein Sturm, wenn auch von raschen Zügen belebt, die die Gewalt der Windstöße übersetzen wollen, fand nicht so viel Widerhall wie Alcione. Indem Marais den über mehrere Notenlinien verteilten Bass-Stimmen eine größere Dichte verleiht, erzielt er eine viel größere klangliche Dramatik. Bald folgten andere Komponisten seinem Beispiel und Erdbeben oder Gewitter verbunden mit höllischem Lärm waren aus dem Operngenre nicht mehr wegzudenken.

Auch wenn Alcione die große Tradition von Lully fortsetzt, hat die Komposition dem Schaffen auf dem so bevorzugten Gebiet der französischen Oper neue Wege gewiesen.

JERÔME DE LA GORCE
Ubersetzung: Claudia Kalász

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