ISTANBUL. Dmitrie Cantemir 1673-1723
Hespèrion XXI, Jordi Savall
35,99€
Reference: AVSA9870
- Hespèrion XXI
- JORDI SAVALL
Das Buch der Musikwissenschaft von Dimitrie Cantemir, das als historische Quelle für die vorliegende Einspielung herangezogen wurde, ist in vielfacher Hinsicht ein außergewöhnliches Werk – zunächst als grundlegende Quelle zum Wissen über Theorie, Stil und Formen der osmanischen Musik des 17. Jahrhunderts, jedoch auch als überaus interessantes Zeugnis des musikalischen Lebens in einem der bedeutendsten Länder des Orients. Dieses 355 Kompositionen (davon neun von Cantemir) zählende Sammelwerk, dessen Notationssystem vom Verfasser selbst erfunden wurde, ist die bedeutendste bis heute erhaltene Sammlung osmanischer Instrumentalmusik aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Ich entdeckte dieses Repertoire erstmals 1999 anlässlich der Vorbereitung zum Projekt über Isabella I. von Kastilien, als unser Mitarbeiter und Freund Dimitri Psonis, ein Spezialist in orientalischer Musik, einen alten Kriegsmarsch aus dieser Sammlung einspielte, der den musikalischen Rahmen zur Erinnerung an die Eroberung Konstantinopels durch das osmanische Heer unter Mehmed II. setzte.
An der Kreuzung zweier Kontinente, Europa una Asien, war ISTANBUL (für die Osmanen) bzw. KONSTANTINOPEL (für die Byzantiner) bereits zu Zeiten von Dimitrie Cantemir (1673-1723) ein wichtiger Schauplatz der Geschichte. Trotz der Erinnerung und der unübersehbaren Präsenz des ehemaligen Byzanz war es damals bereits der religiöse und kulturelle Mittelpunkt des Islam sowie ein außergewöhnlicher Schmelztiegel von Völkern und Religionen, der zahlreiche Reisende und Künstler aus Europa anzog. Hier kam 1693 der 20-jährige Cantemir an, zunächst als Geisel, später als diplomatischer Gesandter seines Vaters, der die Moldau regierte. Mit der Zeit wurde er ein berühmter Tanbur-Spieler, einer Art Laute mit langem Hals, und ein Komponist, der auch wegen seines Werks Kitâbu ‘Ilmi’l-Mûsîkî („Das Buch der Musikwissensschaft“) geschätzt wurde, das er Sultan Ahmed III. (1703-1730) widmete.
Dies ist also der historische Kontext, innerhalb dessen unser Projekt zum Buch der Musikwissenschaft von Dimitrie Cantemir und der sephardischen und armenischen Musiktradition Form nahm. Unser Wunsch ist es, die „ernste“ Instrumentalmusik des osmanischen Hofes aus dem 17. Jahrhundert anhand von Cantemirs Werk vor- und der „traditionellen“ Volksmusik im Dialog gegenüberzustellen, die hier durch die mündliche Überlieferung armenischer Musiker und der sephardischen Gemeinden vertreten ist, die nach ihrer Ausweisung aus Spanien in osmanischen Städten wie Istanbul und Smyrna Zuflucht fanden.
In Westeuropa ist das kulturelle Erscheinungsbild der Türken wegen des langen Kampfes des Osmanischen Reichs um den Vorstoß nach Westen stark verzerrt angekommen und die kulturelle Reichhaltigkeit und vor allem die damals im Reich herrschende Toleranz und Vielfalt in den Hintergrund gedrängt worden. Daran erinnert Stefan Lemny in seinem interessanten Werk über Die Cantemir: „Nach der Einnahme Konstantinopels ließ Mehmed II. die christlichen Einwohner am Leben, und einige Jahre später ermunterte er sogar die alten griechischen Adelsfamilien zur Rückkehr ins Viertel namens Phanar oder Fener, ein Überbleibsel aus der byzantinischen Zeit.“ Unter der Herrschaft Süleymans – dem goldenen Zeitalter des Osmanischen Reichs – wurden die Kontakte zu Europa intensiver, während auch diplomatische und Handelsbeziehungen entwickelt wurden. In seinem ausgezeichneten Werk über Die Musik in der Welt des Islam hält Amnon Shiloah fest: „Obwohl Venedig über eine ständige diplomatische Vertretung in Istanbul verfügte, wandte sich das Reich Frankreich zu. Der 1543 zwischen Süleyman und dem ‚König der Christen‘ Franz I. abgeschlossene Vertrag entwickelte sich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zu einem entscheidenden Annäherungsfaktor, der die Begegnungen begünstigte. Damals entsandte Franz I. ein Orchester für Süleyman als Zeichen der Freundschaft. Das Konzert, das dieses Ensemble spielte, führte angeblich zur Einführung zweier neuer Rhythmen (Taktarten), die später in die türkische Musik Eingang fanden – Frenkcin (12/4) und Frengi (14/4).“
1601 legte das Patriarchat der orthodoxen Kirche, der Begegnungspunkt des aus allen Reichsgebieten – Ägaisinseln, Peloponnes, sonstige Gebiete in Europa, Kleinasien usw. – gekommenen griechischen Adels endgültig seinen Sitz im Viertel Phanar fest, wo bereits die alten griechischen Adelsfamilien seit dem Fall Konstantinopels lebten. Neben diesem Bevölkerungskern lebte somit die alte byzantinische Hauptstadt auch als Zentrum des orthodoxen Glaubens für das gesamte Reich fort. In dieser Hinsicht nahm die Griechische Akademie (oder Große Schule) des Patriarchen eine deutliche kulturelle Vorrangstellung ein. Cantemirs Werken zufolge nannte Voltaire die dort unterrichteten Fächer: Alt- und Neugriechisch, aristotelische Philosophie, Theologie und Medizin. „Meiner Ansicht nach“, erklärte er, „hat Dimitrie Cantemir viele alte Geschichten erzählt, jedoch kann er sich nicht bei den modernen Denkmälern geirrt haben, die er mit seinen eigenen Augen gesehen hat, noch bei der Akademie, deren Schüler er gewesen ist.“
Das Buch der Musikwissenschaft von Dimitrie Cantemir, das als historische Quelle für die vorliegende Einspielung herangezogen wurde, ist in vielfacher Hinsicht ein außergewöhnliches Werk – zunächst als grundlegende Quelle zum Wissen über Theorie, Stil und Formen der osmanischen Musik des 17. Jahrhunderts, jedoch auch als überaus interessantes Zeugnis des musikalischen Lebens in einem der bedeutendsten Länder des Orients. Dieses 355 Kompositionen (davon neun von Cantemir) zählende Sammelwerk, dessen Notationssystem vom Verfasser selbst erfunden wurde, ist die bedeutendste bis heute erhaltene Sammlung osmanischer Instrumentalmusik aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Ich entdeckte dieses Repertoire erstmals 1999 anlässlich der Vorbereitung zum Projekt über Isabella I. von Kastilien, als unser Mitarbeiter und Freund Dimitri Psonis, ein Spezialist in orientalischer Musik, einen alten Kriegsmarsch aus dieser Sammlung einspielte, der den musikalischen Rahmen zur Erinnerung an die Eroberung Konstantinopels durch das osmanische Heer unter Mehmed II. setzte.
Bei unserem ersten Besuch in Istanbul anlässlich eines Konzerts mit Montserrat Figueras und HESPÈRION XXI sowie eines Treffens im Kulturzentrum Yapı Kredi kamen wir zwei Jahre später in den Genuss der ersten modernen Ausgabe der Musik aus Dimitrie Cantemirs Buch der Musikwissenschaft, die wir von unseren Istanbuler Freunden Aksel Tibet, Mine Haydaroglu und Emrah Efe Çakmak zum Geschenk erhielten. Die Musik und die Geschichte dieses Mannes faszinierten mich sofort, so dass ich beide zu studieren begann, um diese zugleich so nahe, jedoch aus reinem Unwissen so ferne Kultur besser kennen zu lernen. Ich war entschlossen, den historischen und ästhetischen Kontext herauszuarbeiten, aus dem ein interessantes Vorhaben entstehen könnte. Sechs Jahre später wählte ich während der Vorbereitung zum Projekt ORIENT-OCCIDENT vier großartige Makam aus, die dieser Arbeit eine neue Dimension verliehen, da es sich um die einzige orientalische Musik handelte, die nicht mündlich überliefert war, sondern einer zeitgenössischen schriftlichen Quelle entstammte. Als natürliche Fortsetzung dieses ersten Vorhabens zum Dialog zwischen Ost und West konnten wir schließlich 2008 ein großartiges Ensemble aus der Türkei (Oud, Ney, Kanun, Tanbur, Lyra und Perkussion) gemeinsam mit Musikern aus Armenien (Duduk, Kemancha und „Beloul“-Ney), Israel (Oud), Marokko (Oud) und Griechenland (Santur und Morisca) sowie die üblichen Solospezialisten von Hespèrion XXI zusammen bringen, mit denen wir diese Einspielung vorgenommen haben. An dieser Stelle möchte ich mich herzlichst bei ihnen bedanken, da ohne ihr Talent und Wissen dieses Projekt niemals zustande gekommen wäre.
Zunächst bestand der empfindlichere Teil der Arbeit in der Auswahl von zehn Stücken aus insgesamt 355 Kompositionen, aus der die repräsentativsten und vielfältigsten Makam hervorgehen sollten, die uns auch am meisten gefielen, obwohl wir wussten, dass diese Auswahl mit einer westlichen Geschmacksvorstellung behaftet war. Nach dieser ausgesprochenen „Qual der Wahl“ waren die ausgewählten Stücke um den osmanischen Teil zu ergänzen, indem jeder Makam durch einen improvisierten Taksim als Vorspiel eingeleitet wird. Parallel dazu trafen wir eine Auswahl an sephardischen und armenischen Stücken. Bei ersteren entschieden wir uns für Weisen aus dem in den Gemeinden von Smyrna, Istanbul und anderen Gegenden des ehemaligen Osmanischen Reichs erhaltenen Ladino-Repertoire, während letztere die schönsten von den armenischen Musikern Georgi Minassyan (Duduk) und Gaguik Mouradian (Kemancha) vorgeschlagenen Stücke umfassen.
Die Spielweise dieser Musik unterscheidet sich heute wahrscheinlich deutlich von jener zu Cantemirs Lebzeiten, also mussten andere Möglichkeiten wie die Zuhilfenahme verschiedener Berichte von europäischen Reisenden erkundet werden, in denen die Besonderheiten der osmanischen Musik aus jener Zeit beschrieben und eine Reihe interessanter Überlegungen zu Ausführung, Praxis, Instrumenten, Hof- und Militärorchester sowie die Feiern der mystischen Bruderschaften angestellt werden. So berichtete Pierre Belon 1553 über die außerordentliche Fertigkeit der Türken beim Herstellen von Bögen und Lautensaiten aus Tiergedärmen, die „hier häufiger als in Europa vorkommen“. Weiters fügt er hinzu, dass „zahlreiche Völker ein oder mehrere [Instrumenten-]Sorten spielen können, was in Frankreich oder Italien nicht der Fall ist“, und erwähnt auch eine große Vielfalt an Flöten sowie die wunderbare klangliche Zartheit des Miskal (Panflöte), über den der italienische Reisende Pietro Della Valle 1614 meint, dass dessen Zartheit „nicht an die der langen Flöte [Ney] der Derwische heranreicht“. Gegen 1700 ist es Cantemir selbst, der in seiner Geschichte des Osmanischen Reiches einräumt: „Vielleicht mutet das, was ich hier über den musikalischen Geschmack eines von den Christen für Barbaren gehaltenen Volkes berichte, in Europa ungewöhnlich an.“ Zwar gibt er zu, dass zur Zeit der Ausdehnung des Reichs barbarische Zustände geherrscht haben dürften, doch habe mit dem Ende der großen militärischen Eroberungen die Kunst, „ein gemeinhin übliches Ergebnis des Friedens, ihren Platz in diesen Geistern eingenommen“. Zu dieser Frage, in der er wohl seine europäischen Leser anspricht, schließt er ab: „Ich traue mich gar zu behaupten, dass die Musik der Türken in Bezug auf Takt und Wortmaß weitaus vollkommener als die europäische ist, doch ist sie auch so schwer zu begreifen, dass man gerade drei oder vier Menschen finden wird, die sich in den Grundlagen und Feinheiten dieser Kunst gut auskennen.“ (HEO, II S.178)…
JORDI SAVALL
Edinburgh, August 2009
Übersetzung: Gilbert Bofill i Ball
PS. Zum Abschluss möchte ich mich bei Amnon Shiloah, Stefan Lemny und Ursula und Kurt Reinhard für ihre bedeutsame Forschungsarbeit zu Geschichte, Musik und Zeitgeschehen bedanken, die ich zur Untermauerung mehrerer Quellen in meinem Kommentar herangezogen habe.
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