HENRY PURCELL Fantasias for the Viols 1680

Hespèrion XXI, Jordi Savall

Alia Vox Heritage

17,99


Ref: AVSA9859

  • Hespèrion XXI
  • Jordi Savall

 


Die Fantasie für Violenensemble ist der Ruhmesgipfel der so genannten englischen Musik, und dieses einzigartige Repertoire, das sich über zwei Jahrhunderte erstreckt, bildet die erhabenste und vollendetste Musik, die in Europa vor der Zeit des klassischen Streichquartettes komponiert wurde. Zwischen Anfang des 16. und Ende des 17. Jahrhunderts wurden Hunderte von diesen „Fancies“ von den größten Meistern der Zeit wie Byrd, Gibbons, Lawes, Jenkins, Locke und weiteren geschrieben. Unter diesen sind manche Stücke hervorragend.

Doch mit dem Triumph der Geige – the new-fangled violin – nahm in England die allgemeine Begeisterung für diese Gattung ab und ebnete damit den Weg für andere musikalische Gattungen wie die Tanzsuite und die Sonate. Die Restauration der Monarchie 1660 löste eine Überschwemmung durch die „kontinentale“, insbesondere die französische Musik aus, die der englische König Karl II. besonders schätzte. Matthew Lockes wunderbare Sammlung, die gerade im Jahre 1660 herausgegeben wurde, ist in diesem Gebiet das letzte Werk, für das sich noch ein Verleger interessierte. Purcell nahm sie sich sofort zum Vorbild.

Purcells fünfzehn Fantasien sind uns als teilweise datiertes Manuskript, das sich heute im British Museum befindet, zugekommen. Voll und ganz der Tatsache bewusst, dass sich in der Zeit niemand für diese Stücke interessieren würde, versuchte der junge Komponist nicht, sie herauszugeben, so dass sie erst 1927 durch Peter Warlock erstmals gedruckt wurden.

Diese einzigartige Sammlung von drei- bis siebenstimmigen Stücken bildet eine wahre Zusammenfassung polyphonischen Gedankenguts, die sich nur mit Bachs Musikalischen Opfern und der Kunst der Fuge vergleichen lässt. Erstaunlicherweise entstammte dieses Werk dem Geist eines einundzwanzigjährigen jungen Mannes, der damit eine kurze, jedoch blitzartige Karriere einleitete. Er komponierte diese Stücke wahrend des Sommers 1680. Sie bilden zugleich den Höhepunkt und das Ende einer englischen musikalischen Tradition, die zwei ganze Jahrhunderte anhielt. Wahrscheinlich war sich der junge Mann dessen bewusst, dass seine Bemühungen so unzeitgemäß und daher auch so zeitlos und uneigennützig waren wie jene des Leipziger Kantors, der siebzig Jahre danach die Kunst der Fuge schrieb.

Im Manuskript des British Museum sind drei dreistimmige, neun vierstimmige (mit dem Anfang einer zehnten, alle datiert zwischen dem 10. Juni und dem 31. August 1680, manchmal an einem einzigen Tag geschrieben) sowie weiters eine fünf-, eine sechs- und eine siebenstimmige Fantasie zu finden. Diese Stücke sind kurz, da keines mehr als hundert Takte zählt. Sie bestehen aus zwei bis fünf Episoden, die sich in Tempo und Stimmung stark voneinander unterscheiden. Die sechs- und siebenstimmigen Stücke werden In Nomine genannt, eine besondere Form der Fantasie, die auf den langen Noten des Cantus firmus beruht, um die die anderen Instrumente ihren jeweiligen Kontrapunkt entfalten. Der Cantus ist der gregorianische Kirchengesang Gloria tibi Trinitas nach dem Sarum-Ritus. Der Hofkomponist der Tudor-Dynastie John Taverner schrieb auf der Grundlage dieser Melodie eine seiner großartigsten Messen, und sein Benedictus mit den Worten In Nomine wurde sehr bewundert und daher auch oft umgeschrieben. Andere Komponisten verfassten später auch rein instrumentale Stücke dieser Art – so erschienen die sogenannten In Nomine, von denen Purcell die zwei letzten bekannten Stücke vor Peter Maxwell Davies’ Werken komponierte. Aufgrund der äußerst strengen Regeln dieser Gattung sah sich Purcell gezwungen, sich Normen zu unterwerfen, die sich etwa von denen der anderen Fantasien unterscheiden. Ihre Sprache ist strenger und archaischer, ihr Tempo bleibt einfarbig und der Cantus firmus schließt die gewöhnlichen Übergangsepisoden aus. Trotzdem sind in jedem Stück drei einzelne Sätze erkennbar, die drei verschiedenen Themen entsprechen und deren polyphonische Struktur dem liturgischen Cantus gegenübergestellt wird. Die einzigen harmonischen Risiken (die in jener Zeit aber keine richtigen Risiken waren) sind die falschen Beziehungen, die durch das Zusammenspiel auf- und absteigender Formen der melodischen Moll-Tonleiter erscheinen. Das siebenstimmige In Nomine übertrifft seine Namensvettern in Umfang und Inspiration.

Bei den dreizehn übrigen Fantasien kommt Purcells Bemühung um Einheit und Verschmelzung immer stärker zum Ausdruck – die erste dreistimmige Fantasie verwendet sechs aufeinander folgende Themen, während die meisterhafte neunte vierstimmige Fantasie, die zweifellos das Meisterwerk dieser Sammlung ist, auf zwei viernotigen Motiven beruht. Die Regel ist im allgemeinen zwei oder drei Themen, die von diesen Episoden getrennt oder eingerahmt werden – darin feiert das harmonische Talent des Musikers seinen höchsten Triumph. Nur zwei Fantasien (3. dreistimmige und 9. vierstimmige) lassen diese Episoden aus, wodurch sie lediglich aus zwei Sätzen bestehen. Die tiefe Sehnsucht des Komponisten drückt sich durch die ausgewählten Tonarten aus, da unter den fünfzehn Fantasien nur fünf in Dur geschrieben sind. Purcells Lieblingstonart ist (wie auch bei Mozart) G-moll. Er verwendet sie vier Mal neben drei Stücken in D-moll. Ausgenommen in drei Fällen überwiegt die Molltonart. Jenseits dieser relativ beschränkten Wahl ist die tonale Beweglichkeit dieser Stücke unglaublich und lässt sich nur mit der musikalischen Produktion des 20. Jahrhunderts vergleichen. Die ständigen, überaus schnellen Tonwechsel (manchmal 4 bis 5 verschiedene Tonarten in einem einzigen Takt) führen den Komponisten in damals neue Welten wie Fis-, Cis- und auch Gis-moll, ja sogar Des-dur, B- und Es-moll! Purcells fieberhaft gequälte Seele drückt sich durch die systematische Verwendung des Chromatismus, den Funktionswechsel einer Drehnote (z. B. ein Leitton, aus dem eine Dominante wird), unkonventionelle Lösungen oder gar falsche Verhältnisse, die Überhäufung von Appoggiaturen und (doppelte und dreifache) Verzögerungen aus.

Aus kontrapunktischer Sicht erweist sich diese Kühnheit als äußerst logisch: wie auch später Bach überlässt Purcell nichts dem Zufall. Sein Gedanke ist horizontal und die unglaublichsten Treffpunkte entsprechen immer der gegenseitigen Deckung melodischer Linien, die oft zwei oder drei verschiedenen Tonarten entsprechen. Dadurch wird eine kontrapunktische Virtuosität erkennbar, die Bach niemals übertreffen wird: Themen werden mit ihrer Umkehrung, Vergrößerung, ja sogar Rückläufigkeit überdeckt, zwei oder drei Themen werden manchmal in einem Doppelkanon kombiniert. Das sind bloße Kinderspiele für diesen genialen Musiker. Purcell verwendet kaum „mechanische“ Hilfsmittel wie Sequenzen, Imitationen, Fugati. Hier herrscht eine volle, jedoch strenge Freiheit, auch eine Asymmetrie vor, die das Hauptmerkmal des Barocks ist und sich auch durch die Flexibilität und Vielfalt der Rhythmen, die die Taktstriche forsch überschreiten, aüßert.

Nun sollen die erstaunlichsten Schönheiten, die drei-, vier- und fünfstimmigen Fantasien geschildert werden.

In der ersten dreistimmigen Fantasie (in D-moll), die trotz der Vielfalt der Motive den folgenden erstaunlich ähnelt, sind die äußerst modern anmutenden springenden Synkopen des zweiten Satzes und auch die fliegenden Tonwechsel der folgenden Episode zu bemerken, in der zwölf Tonarten in zwölf Takten erfolgen und Es-moll vor dem Rückgriff auf das ursprüngliche D-moll erreicht wird.

In der zweiten dreistimmigen Fantasie (in F-dur) erfolgt die Schlussepisode erstaunlicherweise nach dem F-Dur-Abschluss ohne keiner weiteren Einleitung als eine kurze Pause und ein E-moll-Satz (der Effekt ist erstaunlich und höchst dramatisch), der als A-dur-Dominante zum Ausdruck kommt. Nach einem Irrgang komplexer Tonwechsel, mit kühnen Chromatismen und Verzögerungen (die bereits Mozart andeuten) erfolgt endlich der Schluss.

Die Dritte dreistimmige Fantasie (in G-moll) ist ein Wunder der freien Polyphonie: Im zweiten Satz erstaunen die ständigen Wechsel in der melodischen und rhythmischen Struktur des Themas, die mit dessen Umkehrung kombiniert und überdeckt werden.

In der ersten vierstimmigen Fantasie (G-moll, 10. Juni 1680) sind von Anbeginn an die Themeneinleitungen in drei verschiedenen Tonarten geschrieben: G-moll, C-moll und vor allem F-moll, das die Rolle eines echten Grundtons übernimmt. Die Mittelepisode ist wieder erstaunlich: durch zweideutige Tonarten, Drehpunkte (Leittöne werden zu Dominanten), vollkommen modern erscheinende unterbrochene Kadenzen. Darunter geht eine Kadenz vom Grundton D-dur durch ein falsches Verhältnis F-Fis und einen aufsteigenden Sprung zur nächsten Stimme im Grundton C-dur über (dort wird Fis-dur und B-dur erreicht. Anschließend erfolgt durch die außerordentliche doppelte Verzögerung der Bassstimme und der Viole der Übergang zurück zu G-moll in einem einzigen Takt. Horizontal gelesen ist dieses Stück in G-moll jedoch völlig tonal – einfach zauberhaft!

In der zweiten vierstimmigen Fantasie (B-dur, 11. Juni 1680) erstaunt die pathetisch chromatische Einleitung in zehn Takten, die dann zu Es-dur aufschließt. Ihre Ausdrucksspannung entstammt der schmerzhaften Steigerung und den versetzten Akkorden sowie ungewöhnlicher Lösungen, die dem melodischen Chromatismus der Stimmen entsprechen. Der lebendige Abschluss dieser Fantasie entzückt durch sein suggestives Thema, ein englisches Volkslied.

Die dritte vierstimmige Fantasie (in F-dur, Juni 1680), deren Anfang sehr lebendig und fröhlich wirkt, schließt mit einem wunderbaren langsamen Satz ab, dessen intensiver Ausdruck sich geradezu meisterhafter Verzögerungen bedient.

Die vierte vierstimmige Fantasie (C-moll, 19. Juni 1680) ist düster und tragisch – wahrscheinlich der Höhepunkt der Reihe, aber auch deren irreführendstes Stück. Hier herrschen falsche Verhältnisse vor, die rein linear verwendet werden, jedoch leidenscheiftlich zum Ausdruck kommen (Gis-Fis gegenüber F und dann B-A gegenüber As). Im neunten Takt wirkt der Effekt der rein thematischen Verzögerung der zweiten Stimme mit einem unvorbereiteten vergrößerten Quintakkord (F-A-Des) sehr modern, doch handelt es sich lediglich um eine einfache zweite Umkehrung von B-moll mit Leittonverzögerung.

Die fünfte vierstimmige Fantasie (D-moll, 22. Juni 1680), die tonaler und klassischer ist als die Andere, wirkt auch besonders dicht und erinnert and Bachs Kunst der Fuge. Am Ende sind die unterbrochenen Kadenzen zu bermerken, die auf Terzverhältnissen wie bei Cesar Franck und den Postromantikern beruhen (B-moll dominant zu G-moll, dann G-moll zu E-moll).

Die sechste vierstimmige Fantasie (A-moll, 23. Juni 1680) beginnt ebenso wie die zweite mit einer harmonischen Ouvertüre, obwohl sie elegischer und intimer ist. Sie endet mit einer wunderbaren Polyphonie, die vier verschiedene Rhythmen kombiniert: die drei Oberstimmen drücken das selbe Thema mit verschiedenen Noten aus, während die Bassstimme ein anderes synkopiertes Thema durchklingen lasst. Bereits im vierten Takt erscheint die Umkehrung dieser Elemente, die sich in erstaunlicher Abfolge kombinieren und einen starken Kontrapunkt bilden, der auch zeitgenössisch sein könnte – siehe Michael Tippett.

Die siebte vierstimmige Fantasie (E-moll, 30. Juni 1680), deren mittlerer Satz länger als üblich ist, fängt mit einem Thema an, dessen daktylischer Rhythmus und besonderer Ausdruck an das Allegretto von Beethovens siebter Symphonie erinnern.

Achte Fantasie in G-dur: Ihr mildes und heiteres Licht wirkt wie ein Sonnenstrahl nach den düsteren Stücken, die ihr vorangehen. Doch sind hier wieder prächtige Zweideutigkeiten zwischen den modalen Septen und den falschen Verhältnissen der Stimmen in den verschiedenen Tonarten zu finden.

Die neunte und letzte vierstimmige Fantasie, die auch die strengste und vollkommenste ist, umfasst nur zwei Sätze, die auf vier einzigen Noten beruhen. Der erste Satz verwendet ein sehr horizontales Thema (A-G-B-A), das dem berühmten B-A-C-H nahe steht und dessen Umkehrung der Rekurrenz ähnlich ist. Diese verschiedenen Formen mischen in eine fast serielle Stimmung ein, wie auch der zweite Satz, der auf zwei aufsteigenden Quarten (A-D-C-F) beruht. Hier sind die Tonwechsel kühner und schneller und geschehen manchmal von Takt zu Takt. Der junge Schönberg dürfte an diesen verbundenen Dominanten mit Ganztonabstand gewiss Gefallen gefunden haben. In zwanzig schnellen Takten sind über dreißig Tonwechsel zu zählen, die sechzehn verschiedene Tonarten umfassen – eine solche Tonbeweglichkeit hat Bach niemals erreicht.

Die zehnte Fantasie, die viel später als die Anderen geschrieben wurde, ist unvollendet. Die 31 existierenden Takte bilden einen einzigen Satz, der sich um ein einziges Thema entfaltet. Die harmonische Sprache ist nicht so gequält und auch begrenzter als sonst.

Nach dieser übermenschlichen geistigen Anspannung kommt die einzige fünfstimmige Fantasie wie ein Ruheplatz des Friedens und der Frische vor. Diese Fantasie ist eine der am meisten gefeierten Stücke Purcells. Es handelt sich um die bekannte „Fantasie um eine Note“. Die vierte Stimme wahrt ein anhaltendes C, wahrend die anderen Stimmen ihren sanftesten und reinsten Kontrapunkt entfalten. In den kurzen harmonischen Episoden in der Mitte und am Ende hüllt sich die Musik in einen vergänglichen Mantel der Sehnsucht ein. Die Leitnote übernimmt auch die Rolle einer Dominanten, entweder in F-moll oder F-dur; im Mittel-Largo wird As-dur angespielt, und das Allegro molto am Ende, das das frohe Volksliedthema mit einem typischen Sechszehntelmotiv kombiniert (und ein Jahrhundert später von Mozart im Finale der 39. Symphonie (K543) verwendet) wird, beginnt in C-dur, bevor es zum Hauptton zurückkehrt. Niemand sonst könnte die strahlende Sanftheit dieses Stückes besser darstellen.

Die Sammlung ist unvollendet. Vor den folgenden In Nomine ist zu lesen: Hier beginnen die sechs-, sieben- und achtstimmigen Fantasien. Doch endet das Manuskript nach der zweiten.

HARRY HALBREICH
Übersetzung: Marie COSTA

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