Gluck: Don Juan · Sémiramis

Jordi Savall, Le Concert des Nations

17,99


Bereits 1761, ein Jahr vor seinem Meisterwerk Orfeo ed Euridice, erneuerte Gluck mit seiner Bearbeitung eines Werks von Molière für das Wiener Publikum eine andere musikalische Gattung, das Ballett, weitgehend: Don Juan. Ein Jahr später folgte ein weiteres Werk, Sémiramis. Diese beiden Werke sind insofern innovativ, als sie zum ersten Mal eine kohärente Erzählung bieten, in der alle Ressourcen des Orchesters in den Dienst der Ausdruckskraft gestellt werden. Jordi Savall und Le Concert des Nations holen alle Nuancen dieser Partituren hervor und erinnern uns daran, dass ein Vierteljahrhundert vor Mozart die Bühnen Europas von einer anderen herausragenden Persönlichkeit mit der ganzen suggestiven Kraft der Musik verwöhnt wurden: C. W. Gluck.


ALIA VOX
AVSA9949

CHRISTOPH W. GLUCK
(1714-1787)
Don Juan · Sémiramis

Pantomime ballet by Gasparo Angiolini (1731-1803)
Librettist Ranieri de’ Calzabigi (1714-1795)

1-32. DON JUAN OU LE FESTIN DE PIERRE 42’48
33-49. SÉMIRAMIS 22’19

LE CONCERT DES NATIONS
Manfredo Kraemer premier violon
Direction : Jordi Savall

Recording made from 28 to 31 January 2022
at the Collegiate Church of Cardona Castle (Catalonia) by Manuel Mohino

Editing and SACD mastering: Manuel Mohino ARS ALTIS

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Experiment Bühnentanz:
Zu Glucks Wiener Ballettmusiken Don Juan und Sémiramis

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört zu den musikgeschichtlichen Epochen, die durch Wandel und Innovation, durch das Aufbrechen alter Formen, Gattungen und Stile, durch die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gekennzeichnet sind. Der amerikanische Musikwissenschaftler Daniel Heartz bezeichnete diese Phase, die sich vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund der europäischen Aufklärung vollzog, zutreffend als „critical years in European Musical History“. Dies gilt insbesondere für das Musiktheater: Fast zeitgleich kam es an verschiedenen kulturellen Zentren Europas, so auch in Wien, zu mutigen Experimenten in Oper und Bühnentanz. Hier war es Christoph Willibald Gluck, der mit seinen Mitstreitern Ranieri de‘ Calzabigi und Gasparo Angiolini neue Möglichkeiten der Verschmelzung der Musik mit dem Drama in Oper und Tanz erprobte.

Zuvor hatte Gluck erfolgreiche Jahren als Opernkomponist in Italien verbracht, hatte sich dann als Kapellmeister der Operntruppe Pietro Mingottis angeschlossen und wurde schließlich 1750 in Wien sesshaft. In Italien hatte er sich den Ruf eines ebenso vielversprechenden wie eigenwilligen musikalischen Talents erworben: Schon damals galt er als „ein junger Mann von höchsten Fähigkeiten und feurigem Geist“ (Saverio Mattei, 1756), schon damals stieß seine unkonventionelle Musiksprache kontroverse Diskussionen an, so etwa 1752 in Neapel, als die kühnen harmonischen Fortschreitungen und expressiven Dissonanzen der berühmten Arie „Se mai senti spirarti sul volto“ aus seiner Oper La clemenza di Tito von den einen als Verstoß gegen musiktheoretisches Regelwerk kritisiert, von den anderen als zukunftsweisende stilistische Neuerungen gewürdigt wurden.

Die notwendigen kulturpolitischen und theaterpraktischen Voraussetzungen, die Gluck in Wien den Weg zum künftigen „Reformator“ ebneten, wurden 1760 von dem damaligen Generalintendanten der Wiener Theater, Giacomo Conte Durazzo, geschaffen. Ihm gelang es, eine Gruppe experimentierfreudiger Künstler zusammenzuführen, der neben dem Gluck selbst auch sein späterer Opernlibrettist Ranieri de‘ Calzabigi als Ideengeber und „Regisseur“ sowie der Tänzer, Choreograph und Tanzreformer Gasparo Angiolini angehörten. Sie alle verband der Wunsch, im Bereich des Musik- und Tanztheaters neue Wege zu beschreiten und die Erneuerungsbestrebungen, die damals in der Luft lagen, nicht nur theoretisch zu erörtern, sondern praktisch auf der Bühne umzusetzen.

Bühnentanz im Umbruch: Don Juan

Bezeichnenderweise wählte man dafür zunächst die Gattung Ballett. Als erstes Produkt des reformorientierten Wiener Kreises ging am 17. Oktober 1761 das Ballett Le Festin de pierre (Don Juan) über die Bühne des Wiener Burgtheaters, konzipiert und choreographiert von Angiolini, mit Musik von Gluck – ein richtungsweisendes Werk, das nicht nur die weitere Entwicklung des Balletts beeinflusste, sondern von dem auch wesentliche Impulse für andere Bühnengattungen ausgehen sollten. Mit ihm verbanden die Autoren hohe Ansprüche. Wie in der programmatischen Vorrede zum Szenarium der Uraufführung zu lesen ist, sollte die dramatische Handlung ausschließlich durch pantomimische Aktion, tänzerische Bewegung, Mimik und Gestik dargestellt werden, in engster Verbindung mit einer tanzspezifischen, „redenden“ Instrumentalmusik, für die Angiolini in Gluck einen kongenialen Partner gefunden hatte. „Herr Gluck hat die Musik dazu komponiert“, so schrieb Angiolini, „er hat das Schreckliche der Handlung auf vollkommene Weise erfasst. Er hat versucht, das Spiel der Leidenschaften und das Entsetzen, das in der Katastrophe herrscht, auszudrücken.“

Als Sujet wählte man einen Stoff, der seit Tirso de Molinas El Burlador de Sevilla y combidado di piedra (1630) eine eindrucksvolle Rezeptionsgeschichte in Literatur, Musik und Theater aufzuweisen hat: die Legende um Don Juan, den gewissenlosen Verführer, der seine erotische Anziehungskraft auf Frauen skrupellos zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ausnutzt und dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Dem Wiener Publikum war dieses Sujet vor allem durch Molières erfolgreiche Komödie Dom Juan ou Le Festin de pierre bekannt, die auch Angiolini als Vorlage für seine Ballettversion diente.

Musikalische Überlieferung und „Werkgestalt“

Musikalische Überlieferung und „Werkgestalt“ von Glucks Ballettmusik zu Don Juan stehen in engem Zusammenhang mit der Bühnenpraxis des Balletts im 18. Jahrhundert. Musik, Bühnenaktion und Choreographie bildeten nach dem Verständnis der damaligen Zeit ein mobiles Gefüge, das je nach Aufführungskontext variabel war. Im Unterschied zu Balletten späterer Epochen erweisen sich solche Stücke noch nicht als strukturell fixierte Einheit von Musik und Choreographie im Sinne eines verbindlich und letztgültig festgelegten „Werkes“. Dies gilt auch für Glucks Don Juan-Ballett, das 1761 in einer auf die Essenz des Dramas reduzierten dramaturgisch-musikalischen Gestalt über die Bühne ging und explizit die reformerischen Konzepte ihrer Autoren spiegelt. Als experimentelles „work in progress“ wurde die Version der Uraufführung noch während der ersten Wiener Aufführungsserie in der Spielzeit 1761/62 und in der Folge in späteren Produktionen im Hinblick auf Umfang, Dramaturgie, Rollenspektrum und Choreographie verändert, mit entsprechenden Konsequenzen für die Musik, die in zwei Fassungen überliefert ist: in einer aus 16 Nummern bestehenden Kurzfassung, die sich mit dem im Szenarium von 1761 skizzierten Handlungsverlauf koordinieren lässt und daher als Musik der Wiener Uraufführung anzusehen ist, und einer erweiterten Fassung aus 32 Sätzen, die um 1800 auch Eingang ins Konzertrepertoire fand und in der vorliegenden Einspielung von Jordi Savall und seinem Ensemble zu hören ist. In ihr sind alle Sätze der Kurzfassung enthalten; hinzu kommen zusätzliche Nummern tänzerischer bzw. pantomimischer Faktur vor allem zur musikalischen Untermalung des Festes im Haus Don Juans im zweiten Akt, aber auch für die Auseinandersetzung mit dem Komtur im ersten Akt sowie zur Charakterisierung der Dienerfigur.

In beiden Fassungen besteht das Ballett aus einer kurzen einsätzigen Sinfonia, die mit energischem Gestus und mit harmonischen, dynamischen und expressiven Kontrasten in das Bühnengeschehen einführt, sowie einer Abfolge von Sätzen unterschiedlicher Instrumentalbesetzung, Länge und musikalischer Charakteristik. Dem Genre entsprechend handelt es sich dabei einerseits um Tanzsätze nach gängigen formalen Schemata und Strukturen der Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Gavotte, Contredanse und Menuett. Andererseits begegnen in Glucks Ballettmusik auch Stücke, die in unmittelbarem Bezug zum Bühnengeschehen, zur dramatischen Aktion und zur choreographischen Ausgestaltung stehen und vom pantomimischen Gestus der Aktion bestimmt sind. So handelt es sich bei der Nummer 2 (Andante) um ein Ständchen, mit dem Don Juan zu Beginn der Handlung um die Gunst Donna Elviras wirbt, die Tochter des Komturs. Die Solo-Oboe, geführt in lyrisch-vokalem Duktus, steht dabei für den Gesang des Protagonisten, die pizzicato spielenden Streicher für ein die abendliche Serenade begleitendes Zupfinstrument. Einen ersten dramatischen Höhepunkt, verbunden mit einer Verdichtung der pantomimisch-szenischen Aktion, erreicht das Bühnengeschehen am Schluss des ersten Aktes, als es zur Konfrontation zwischen Don Juan und dem Komtur in Form eines Duells kommt. Die Musik der Nummer 5, bezeichnenderweise mit „Allegro forte risoluto“ überschrieben, ist kontrastreich gestaltet, mit wechselndem Tempo, Dynamik und Ausdruck und in unregelmäßiger Periodisierung. Sie spiegelt die dramatischen Vorgänge auf der Bühne wider: den Schlagabtausch der Duellanten, die nachlassenden Kräfte des unterlegenen Komturs, der schließlich tödlich getroffen wird – ein Moment des Stillstands der Handlung, der in der Musik durch eine Fermate markiert wird, bevor Don Juan zu den raschen Zweiunddreißigstel-Figuren der letzten Takte vom Ort des Verbrechens flieht.

„Bewegungen von unvergleichlicher Sinnlichkeit“

Im zweiten Akt gibt Don Juan in seinem Haus ein rauschendes Fest, begleitet von Musik und Tanz, das in der Langfassung der Ballettmusik durch eine zur szenischen Situation passenden Abfolge zumeist tänzerisch gestalteter Sätze präsentiert wird (Nr. 6–18), bevor das lebhafte Festgeschehen auf einen markanten Höhepunkt zusteuert: Als Nummer 19 erklingt der berühmte Fandango, der im 18. Jahrhundert zum Inbegriff des „spanischen Tanzes“ schlechthin avancierte und der sich aufgrund dieser Konnotation ebenso leicht wie wirkungsvoll zur Illustration spanischen Kolorits auf der Bühne einsetzen ließ. Der Fandango galt zudem als erotisch aufgeladener, sinnlicher Tanz, den etwa Giacomo Casanova aufgrund der eingesetzten „Bewegungen von einer unvergleichlichen Sinnlichkeit“ als den „verführerischsten und wollüstigen Tanz der Welt“ beschrieben hatte – wie geschaffen also für die im spanischen Sevilla spielende Handlung des Don Juan-Ballett und insbesondere zur musikalischen Charakterisierung des spanischen Libertins und Frauenverführers Don Juan als Protagonisten.

Seinem von Kastagnetten begleiteten Auftritt im Fandango, passenderweise als „Chaconne espagnole“ überschrieben, folgen mit den Menuetten Nr. 20 und 21 und der Contredanse Nr. 22 Gesellschaftstänze der Festgäste, die in der folgenden Nummer 23 jäh und unerwartet unterbrochen werden: Als wirkungsvoller Coup de théâtre erscheint der Geist des Komturs, mit dem die ausgelassene Feier im Diesseits eine Wendung ins Metaphysische erfährt. Wie die Ereignisse rund um das Erscheinen des Geistes verlaufen, beschreiben szenarische Quellen, die sich präzise mit der Musik koordinieren lassen: Zu Beginn der Nummer 23 machen akzentuierte Unisono-Klänge der Streicher im Fortissimo das Anklopfen des Geistes hörbar („Der Geist klopfet an“ bzw. „on entend frapper fortement à la porte“); im weiteren Verlauf illustriert die Musik den Schrecken des zur Tür gehenden Dieners und die Aufregung der vor dem Geist fliehenden Brautgesellschaft (Presto). Auch in den folgenden Nummern 24 bis 26 ist Glucks Musik eng an der Bühnenaktion orientiert. So vermittelt sich in Nummer 24 (Risoluto e Moderato) durch hämmernde Fortissimo-Klänge erneut das energische Klopfen des Geistes, der sich nun Zutritt verschafft, während in Nummer 25 die Rückkehr der noch immer vor Angst zitternden Gäste (Entrée des trembleurs) in eindringlichen, dynamisch akzentuierten Figurationen der Violinen vermittelt wird und in Nummer 26 sequenzierte fallende Skalen den Schrecken des Dieners verdeutlichen.

Gegen Ende des Balletts kommt es zur Konfrontation zwischen Don Juan und des nun als Statue materialisierten Geistes in der Friedhofsszene am Grabmal des Komturs. Im Larghetto Nr. 30 drängt die Statue Don Juan vergeblich zur Reue und zur Änderung seines lasterhaften Lebenswandels, was schließlich die das Ballett abschließende Höllenfahrt Don Juans in der Furienszene auslöst: Die Erde öffnet sich, dem Feuer der Hölle entsteigen Furien und Dämonen, die Don Juan quälen und ihn schließlich in die Hölle hinabstoßen. Dieses spektakuläre Ballettfinale wurde bei der Wiener Uraufführung von Angiolini selbst als Don Juan und einer Gruppe von 24 Furien getanzt und mit Bühnen- und Lichteffekten wirkungsvoll in Szene gesetzt, begleitet von Glucks hochexpressiver, dramatisch aufgeladener Musik mit ihren markanten Akzenten der Trompeten und Posaunen und dem drängend-insistierenden Duktus der dominierenden Sechzehntel-Figuren der Geigen, teils als Tonrepetitionen, teils als zumeist abfallende Skalen, die den Weg in die Hölle zu weisen scheinen.

„gar zu pathetisch und traurig“: Sémiramis

Mit Don Juan hatten Gluck und sein Team den ersten Schritt auf dem Weg zu einem autonomen Tanzdrama gemäß den intendierten Erneuerungsbestrebungen im Musiktheater ihrer Zeit getan. So innovativ Konzeption und Musik in der Retrospektive auch erscheinen, so wird doch deutlich, dass Don Juan, zumal in der Langfassung, noch reichlich Raum lässt für dekorative, unterhaltsame Tanzszenen in eher konventioneller musikalischer Ausformung, insbesondere in der Festszene im Haus Don Juans. Trotz des tragischen Schlusses wurde das Ballett, das Angiolini selbst als „Comédie Héroïque“ bezeichnete, vom zeitgenössischen Publikum nicht als echte Tragödie aufgefasst, da Don Juans Höllenfahrt gemäß den Moral- und Wertvorstellungen des 18. Jahrhunderts als gerechte Bestrafung eines zur Reue unfähigen, schuldbehafteten Protagonisten ohne Einsicht in die eigenen Verfehlungen verstanden werden konnte.

Dagegen erweist sich Sémiramis als genau das, was die Gattungsbezeichnung verspricht: als „tragédie en ballet pantomime“. Das Ballett entstand aus Anlass der Neuvermählung des späteren Kaisers Josephs II. mit der bayerischen Prinzessin Maria Josepha und war Teil eines dem Anlass gemäßen Festprogramms mit verschiedenen musikalischen Darbietungen und Theateraufführungen. Die Uraufführung fand am 31. Januar 1765 im Anschluss an Racines Tragödie Bajazet am Wiener Burgtheater statt, erneut als Gemeinschaftswerk von Angiolini, Gluck und Calzabigi. Wieder wurde ein wohlbekanntes Sujet mit einer langen Bühnentradition, die im Bereich der Oper bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückreicht, verarbeitet. Im Mittelpunkt des Stoffs steht die assyrische Königin Semiramis, eine antike Heroine, mit der sich Gluck bereits 1748 in Zusammenhang mit seiner Opera seria Semiramide riconosciuta beschäftigt hatte. Mit dem Ballett wagte er nun ein tanzdramatisches Experiment in einer Phase, in der sich seine Position und sein Nimbus eines nach Aufbruch und Erneuerung im Musik- und Tanztheater strebenden Komponisten mit Orfeo ed Euridice 1762 längst gefestigt hatten.

Wie groß der Anspruch war, den die Schöpfer der Sémiramis mit ihrem Ballett verbanden, verdeutlicht die programmatische Schrift, die zur Uraufführung 1765 im Druck erschien: die Dissertation sur les ballets pantomimes des anciens, pour servir de programme au ballet pantomime tragique de Sémiramis, deren Autorschaft Calzabigi zwar später für sich selbst beanspruchte, die aber in ihren Ideen und Konzepten, vor allem in den spezifisch auf den Tanz bezogenen Passagen, Angiolini zuzuschreiben ist. Gefordert wird die Orientierung des Balletts an den Regeln des gesprochenen Dramas, insbesondere an der aristotelischen Dramenpoetik, die Straffung der Handlung durch Verzicht auf Nebenepisoden und -figuren, eine geradlinige, stringente Handlung, ein expressiver Tanzstil und eine ebenso expressive Musik, der Angiolini und Calzabigi als „Poésie des Ballets Pantomimes“ eine zentrale Rolle zuweisen.

Die unmittelbare Vorlage für Sémiramis fand Angiolini in Voltaires gleichnamiger, 1748 erfolgreich uraufgeführter Tragödie, aus der er eine ebenso verstörend-beklemmende wie effektvolle Balletthandlung entwickelt: Semiramis, die sich des Mordes an ihrem Ehegatten Ninus schuldig gemacht hat, strebt nach einer neuen Verbindung und wählt einen Bewerber, der in Wirklichkeit ihr eigener Sohn Ninias ist. An Ninus‘ Grabmal erscheint dessen Geist und fordert Rache an der für seinen Tod verantwortlichen Person, die Ninias durch die Ermordung der eigenen Mutter vollzieht.

„Pantomime sans danse“

Nicht nur in der auf äußerste Komprimierung und Verdichtung zielenden dramaturgisch-choreographischen Konzeption, sondern vor allem in der musikalischen Ausformung erweist sich Sémiramis als die konsequenteste Umsetzung der Idee des pantomimischen Handlungsballetts. Im Unterschied zu seinen übrigen Ballettmusiken (einschließlich Don Juan) verzichtete Gluck in dieser „pantomime sans danse“ (Jean-Georges Noverre) auf konventionelle, divertissementhafte Tanzsätze zugunsten individuell gestalteter Charakterstücke in einer „modernen“ Musiksprache: mit kühner, unkonventioneller, teils schroffer Harmonik, mit ausgeprägten dynamischen Differenzierungen auch in der Mikrostruktur einzelner Takte und Taktfolgen, mit Tempo- und Rhythmusschwankungen und bewusst unregelmäßiger Periodisierung, mit ausgefeilter Instrumentierung, mit einem über weite Strecken aktionsgeladenen, drängenden musikalischen Duktus, mit Fermatenpausen an Stagnationspunkten der Handlung und der Verwendung von Erinnerungsmotiven – mit stilistischen Merkmalen also, die über die eigene Zeit hinausweisen.

Mag die Sinfonia zu Beginn noch an das Formmodell der französischen Ouvertüre erinnern, so weist sie im weiteren Verlauf durch schroffe harmonische Wendungen, stark akzentuierte, dynamisch konstrastierende Akkordschläge und den offenen, dominantischen Schluss bereits auf das kommende tragische Geschehen voraus. Damit erfüllt sie die Forderung des „Opernreformators“ Gluck, dass die Ouvertüre eines Bühnenwerks das Publikum auf die Handlung vorbereiten solle. In teils lamentohaft-archaischem, teils dramatisch akzentuiertem Duktus, durchsetzt mit chromatischen Wendungen, Dissonanzen und dynamischen Kontrasten, exponieren die folgenden Sätze die Gefühlslage der Königin Semiramis, die von grauenvollen Träumen geplagt wird. Diese münden schließlich in die Vision der Geistererscheinung des schattenhaft auftauchenden Ninus und dem von unsichtbarer Hand geschriebenen Schriftzug: „Mein Sohn, räche mich! Zittre niederträchtige Gattin!“

Im zweiten Akt führt die Musik in die im Szenarium detailliert beschriebene Szenerie im Tempel des Königspalastes ein, in dem man sich für die Wahl des neuen Gatten für Semiramis zusammengefunden hat. Im Unterschied zur dramatisch aufgeladenen Musik des ersten Aktes erklingt ein menuetthaft-zeremonielles Moderato (Nr. 3), zu dem die Magier und Satrapen eine „Danse grave et majestueuse“ ausführen. Ein ausdrucksvolles Moderato, Grazioso (Nr. 4) mit reizvoll alternierenden Blasinstrumenten (Solooboe und Fagott) begleitet Semiramis‘ Auftritt, bevor sich nach dem überleitenden Moderato Nr. 5 der Brautwerber Ninias in einem vollstimmigen, marschartigen Maestoso in D-Dur ankündigt. Als Semiramis diesen nach anfänglichem Zögern zum Gatten wählt und zum Altar führt, bricht ein Gewitter mit Donner und Blitz aus, das in der Musik lautmalerisch illustriert wird.

Im dritten Akt wechselt der Schauplatz zu einem heiligen Hain mit den Gräbern der assyrischen Könige, in dem sich die finale Katastrophe des Dramas ankündigt. In kurzen, kontrastierenden Motiven untermalt die Musik im Adagio Nr. 10 sowohl die bedrohliche allgemeine Stimmung als auch das plötzliche Erscheinen des Geistes des Ninus, der die zu Tode erschrockene Semiramis schließlich in sein Grab hinabzieht. Die mit einem Forte-Akkord in energischem Gestus einsetzende Nummer 12, erneut ein Adagio, ist geprägt von dynamisch akzentuierten, teils dissonanten Achtelrepetitionen der Streicher, durchsetzt von handlungsbezogenen Fermaten und kurzen punktierten Motiven, und verliert sich am Schluss in einem zurückweichenden Perdendosi im Nichts – Ausdruck der schicksalhaften Erkenntnis des Ninias, dass er am Grab des eigenen Vaters steht und effektvoll verbunden mit den geheimnisvoll auf dem Sockel des Mausoleums erscheinenden Worten „Komm, eile, räche deinen Vater“. Im Folgenden überschlagen sich die Ereignisse: Zur dramatisch akzentuierten Musik des Allegro maestoso (Nr. 13) tritt Ninias mit blutigem Dolch aus dem Grabmal, nach ihm die tödlich getroffene Semiramis (Nr. 14), in der er die eigene Mutter erkennt, was zu einem Selbsttötungsversuch des Ninias (Nr. 15) führt, der von den Magiern vereitelt wird.

Mord, Inzest, Blut, Schuld und Sühne, ein von der eigenen Ehefrau getöteter Gatte, der geisterhaft und aus dem Grab heraus das Schicksal seiner Familie bestimmt, die vom eigenen Sohn erdolchte Protagonistin im Schlusstableau – so wirkungsmächtig Motive, Bilder und die in weiten Teilen hochdramatische Musik auf der Bühne gewirkt haben mögen: Das dramaturgisch wie musikalisch kompromisslose und extreme Werk des ambitionierten Künstlerkreises um Gluck löste beim Publikums der Wiener Uraufführung allenfalls respektvolle Anerkennung, vor allem aber Befremden und Irritation aus. Dass man es aufgrund des düsteren Sujets als unpassend für den freudigen Aufführungsanlass empfand, betonte zum Beispiel Fürst Khevenhüller-Metsch, nach dessen Eindruck das „vom Signor Angiolini componirte Ballet […] gar keine Approbation gefunden, auch in der That für ein Hochzeitsfest gar zu pathetisch und traurig gewesen“ sei. Ein Publikumserfolg ist Glucks Sémiramis weder zu Lebzeiten des Komponisten noch darüber hinaus geworden – was Angiolini/Calzabigi jedoch in ihrer Dissertation über Glucks Musik formulierten, hat bis heute nichts an Aktualität verloren: „Eine derartige Musik ist ebenso schwer zu machen, wie es schwierig ist, eine Tragödie in Verse zu setzen: Alles muss in dieser Musik sprechen, sie muss uns helfen, uns verständlich zu machen, und sie ist eine unserer wichtigsten Triebfedern, um die Leidenschaften zu bewegen. Nach dieser Skizze kann man sein [Glucks] Verdienst beurteilen.“

IRENE BRANDENBURG
Paris Lodron Universität Salzburg

Kritik

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