DON QUIJOTE DE LA MANCHA Romances y Músicas
Hespèrion XXI, Jordi Savall, La Capella Reial de Catalunya, Montserrat Figueras
25,99€
Ref: AVSA9843
- Hespèrion XXI
- La Capella Reial de Catalunya
- Jordi Savall
Innerhalb des unzähligen Lobs und Ehrungen zum Anlass des 400-jährigen Jubiläums des Don Quijote behandeln nur Wenige die musikalische Dimension Miguel de Cervantes’ eingehend; umso Wenigere werden sich dessen bewusst sein, dass seine literarische Größe ihm ebenso wenig half wie seinem Helden dessen Herzensgröße. Wie noch heute mit unseren Musikern aus der Vergangenheit der Fall ist, deren Erinnerung mitten im 21. Jahrhundert nach wie vor unter mehreren Schichten Romantik und Jugendstil begraben liegt, blieb Miguel de Cervantes nicht nur im Spanien seiner Zeit weitgehend unverstanden, sondern wurde auch von seinen Zeitgenossen geradezu malträtiert und erniedrigt. Inmitten so großer Feierlichkeiten ist es angebracht, daran zu erinnern und gleichzeitig die musikalische Dimension seines Genies hervorzuheben.
Denn nur ein Schriftsteller mit ausgezeichneter musikalischer Bildung und Erfahrung, der zudem große Kenntnisse über Praxis und Funktion der Musik, das alte und zeitgenössische Repertoire der Romanzen, Lieder und Tänze sowie damals gebräuchliche Musikinstrumente besaß, konnte in der Lage sein, so viel und so genaue Information über das alltägliche musikalische Schaffen in seine Erzählungen einzufügen. Für Cervantes ist die Musik stets die reinste Form, persönliche Gefühle auszudrücken. Die stets mit großer Liebe zum Detail beschriebenen vielfältigen Klänge, sowohl musikalisch als auch von der Umwelt, füllen und beleben die Handlung in den spannendsten Augenblicken. Der einem ausgeprägt intimen und persönlichen Gesang innewohnenden Schönheit und Ausdruckskraft zum Dank ist die Musik stets Träger von Frieden und Freude, Wehmut und Trauer, vermag aber auch Zauber und Sinnlichkeit zu vermitteln. Im Zusammenhang mit den Romanzen führt sie uns in eine Wunderwelt, in der unser althergebrachtes historisches und mythologisches Gedächtnis als Inspiration oder Vorwand dient, um die alltäglichen Miseren und Missgeschicke zunächst zu verstehen oder ertragen, später zu verarbeiten und überwinden. Daher ist die Musik immer wieder ein grundlegendes Element in der Erzählung Cervantes’, denn über sie haben wir Zugang zu dieser magischen Dimension, die weit über die Ausdrucks- oder Deutungsfähigkeit der Worte hinausgeht.
Sind fast alle großen Romane zu einem Großteil autobiographisch, so ist es sehr wahrscheinlich, dass das Leben von Cervantes selbst gewissen Aspekten des Don Quijote als allegorische Inspirationsquelle diente. Es ist somit sehr einfach, sich Cervantes vorzustellen, wie auch er seine Gitarre stimmt und „mit einer etwas rauhen, aber doch rein klingenden Stimme“ eine Romanze anstimmt, um seine Leiden zu vergessen, denn allem besonders internationalen Erfolg des Don Quijote zum Trotz musste er ohne jegliche Achtung und Anerkennung in seinem eigenen Land in äußerst bescheidenen Verhältnissen leben und schließlich verarmt sterben.
Unser Interesse für die Musik von Miguel de Cervantes geht auf die 70er Jahre zurück, als gemeinsam mit Montserrat Figueras, Hopkinson Smith, Ton Koopman sowie anderen Musikern des damals soeben gegründeten Hespèrion XX „Canciones y Danzas de España, en la Época de Miguel de Cervantes“ („Lieder und Tänze aus Spanien zur Zeit Miguel de Cervantes’“, 1977) für EMI aufgenommen wurde. War aus jenem Anlass die Auswahl des Repertoires Cervantes’ breit gefächert, so haben in diese Ausgabe der Romanzen und Weisen des Don Quijote alle Romanzen, Lieder, Madrigale und Weisen Eingang gefunden, die von den verschiedenen Figuren zitiert und kommentiert bzw. in den unterschiedlichen Erzählsituationen in Verbindung mit dem jeweiligen, von verschiedenen Erzählern aufgesagten Text beschrieben werden, so dass ihre Ausdruckskraft und Darstellungsfähigkeit beim Hören zum genauen Zeitpunkt der Handlung eine neue, spannende Annäherung an die Welt unseres liebenswürdigen sinnreichen Junkers ermöglicht.
Die Weisen, die zum Großteil Romanzen und Liedern entstammen, blieben in den Cancioneros, Publikationen (für Handgitarre, Harfe oder Tastatur) und zeitgenössischen Abhandlungen erhalten. So konnte die dramatische Romanze von Don Beltrán über die Niederlage bei Roncesvalles ausgehend von dem von Gitarrenspielern sowie in der meisterhaften polyphonischen Version von Juan Vásquez verwendeten Cantus planus rekonstruiert werden, ebenso wie die feierliche Musik, die Don Quijote bei seiner Ankunft in Barcelona mit den Klängen des Hintersassen durch Flöten, Schalmeien und Mohrentrommeln empfängt, die beliebte Romanze der Liebschaften und Abenteuer des Grafen Claros, die über die bündige, aber grundlegende Information über die Melodie (1565 von Francisco Salinas in seiner Abhandlung Musica Libri VII niedergeschrieben) zu uns gelangt ist, sowie Liebe und Zank zwischen Venegas de Henestrosa und den Gitarrenspielern.
In all jenen Fällen, in denen die Musik nicht bekannt war, sei es aus Mangel an historischen Quellen oder weil es sich um von Cervantes selbst neu komponierte Werke handelte (Nr. 18, 22 und 24 im ersten Teil und Nr. 15, 19, 25 und 27 im zweiten), wurde auf die damals weit verbreitete „Konterfei“-Technik zurückgegriffen, indem die angebrachtesten, dem selben Charakter und Metrik entsprechenden zeitgenössischen Musikstücke zu Hilfe genommen wurden – so wurde die liebliche Alte Romanze von Lanzelot über eine alte sephardische Weise zu neuem Leben gebracht, während der Romanze von Guarinos die Musik der Romanze von Alburquerque (CMP 106) zu Grunde gelegt wurde. Für die Romanze der Klage Belermas wurde die kräftige, ausdrucksstarke weibliche Klage El bien qu’estuve esperando von Sant Juan (CMP 68) herangezogen.
All diese Musikstücke wurden in den Kontext der Erzählung eingebunden und in der beschriebenen Grundform ausgeführt – sei es mit bestimmten Instrumenten wie Gitarre, Harfe und Fiedel oder nur mit Solostimme bzw. in Begleitung „seiner eigenen Seufzer“ (II, Nr. 25). Die Erzähltexte werden von einigen der beliebtesten Instumentalstücke ihrer Zeit vervollständigt und begleitet – Graf Claros und Hüte meine Kühe, Pavanen und Gallardas, in den verschiedenen Versionen der Gitarrenspieler dargeboten, zusätzlich die unterschiedlichen instrumentalischen Einführungen oder Kommentare, die an den verschiedenen Instrumenten wie Oud, Handgitarre, Kreuzharfe, Orgel, Cembalo, usw. improvisiert werden. Das Ende unseres Helden wird von Auszügen aus dem Requiem begleitet – der Lacrimosa in ihrer Form des Cantus planus in falschem Bariton und dem unvergleichlichen (fünfstimmigen) Pie Jesu von Cristóbal de Morales.
Die außerordentliche Themen- und Charaktervielfalt all dieser Romanzen und Weisen bildet ein liebenswürdiges poetisch-musikalisches Fresko, das auf einen weiteren Aspekt des möglichen Ursprungs des Wahnsinns unseres Helden neues Licht wirft. Gleichzeitig verrät sie den überaus wertvollen musikalischen Schatz, den das Genie Miguel de Cervantes’ in seinen Roman des Don Quijote aufzunehmen wusste. Wie Paloma Díaz-Mas anmerkt, war die Romanze dank ihrer Verbreitung durch den Buchdruck zu jener Zeit ein hochbeliebtes Genre. Diese zum Gesang bestimmte Dichtung war in aller Munde, und Cervantes nahm in seinen Don Quijote alte Romanzen mittelalterlicher Tradition auf, die aber zweifelsohne dem Publikum des angehenden 17. Jahrhunderts bekannt waren, oder auch eigens neu verfasste Romanzen, die in Form von Liedern, Sprichwörtern oder einfachen Anspielungen auf eine Welt Bezug nahmen, die trotz ihrer allgemeinen Bekanntheit nichts an Vorstellungskraft und Charme einbüßte. Mit dieser Aufnahme wird dieses alte dichterische Tonmaterial aus seiner ungerechten, unverständlichen Vergessenheit gerettet und bringt somit einen bislang wenig erforschten, in den Seiten des weltberühmtesten Werks der spanischen Literatur verborgenen Musikschatz zum Vorschein.
JORDI SAVALL
Bellaterra, Sommer 2005
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