DIEGO ORTIZ Recercadas del Tratado de Glosas

Jordi Savall

Alia Vox Heritage

15,99


Referència: AVSA9899

  • JORDI SAVALL
  • Ton Koopman
  • Rolf Lislevand
  • Andrew Laurence-King

Am 10. Dezember 1553, einer der Sternstunden im goldenen Zeitalter der spanischen Musik, wurde in Rom der TRATTADO DE GLOSAS SOBRE CLAUSULAS Y OTROS GENEROS DE PUNTOS EN LA MUSICA DE VIOLONES NUEVAMENTE PUESTOS EN LUZ von Diego Ortiz gedruckt, der auch unter dem Namen „el Toledano“ bekannt war. Dieses für das Studium der instrumentalen Praxis des 16. Jahrhunderts unumgängliche Werk ist außergewöhnlich wichtig, nicht nur historisch, sondern auch aufgrund seines künstlerischen Werts, denn es enthält die schönsten Beispiele des in der Renaissancezeit bekannten Repertoires für Viola da gamba (Vihuela de arco oder Violone) und Cembalo.


Am 10. Dezember 1553, einer der Sternstunden im goldenen Zeitalter der spanischen Musik, wurde in Rom der TRATTADO DE GLOSAS SOBRE CLAUSULAS Y OTROS GENEROS DE PUNTOS EN LA MUSICA DE VIOLONES NUEVAMENTE PUESTOS EN LUZ von Diego Ortiz gedruckt, der auch unter dem Namen „el Toledano“ bekannt war. Dieses für das Studium der instrumentalen Praxis des 16. Jahrhunderts unumgängliche Werk ist außergewöhnlich wichtig, nicht nur historisch, sondern auch aufgrund seines künstlerischen Werts, denn es enthält die schönsten Beispiele des in der Renaissancezeit bekannten Repertoires für Viola da gamba (Vihuela de arco oder Violone) und Cembalo.

Bis heute wissen wir wenig über das Leben des spanischen Violaspielers und Komponisten Diego Ortiz. Die ersten Angaben über ihn erhalten wir zugleich mit der Veröffentlichung seines Trattado de Glosas (1553) in Rom. Das ungeheure Wissen, das ein solches Werk voraussetzt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass Ortiz es als reifer Mann komponiert hat. Komponiert – oder neu verlegt – wenn es sich überhaupt bestätigen lässt, dass der Inhalt der Abhandlung in diesem Jahr 1553 „ans Tageslicht gelangte“. Als Diego Ortiz sein Heimatland verliess, hatte er bereits eine vollständige musikalische Ausbildung genossen. Beweis dafür war der eindeutige Wegbereiteraspekt seiner Abhandlung unter dem Gesichtspunkt des muskalisehen Stils. Ein Vergleich mit der Regola rubertina (Venedig, 1542-43) von Sylvestro Ganassi, die zehn Jahre vor Ortiz’ Abhandlung veröffentlich worden war, sowie der eindeutig spanische Charakter des Werks von Diego Ortiz erhärtet die Vermutung, dass Ortiz bereits eine abgeschlossene musikalische Ausbildung besaß, als er seine Heimat verließ. Doch kennen wir immer noch nicht – trotz jüngster Nachforschungen in seiner Geburtsstadt – sein genaues Geburtsdatum, den Ort seiner musikalischen Ausbildung, noch wissen wir, welche Tätigkeit er vor seiner Reise nach Italien ausgeübt hat.

Der (bis 1500?), in Toledo wohnende Diego Ortiz war zu seiner Zeit einer der bemerkenswertesten Gambisten und ein berühmter Meister in der Kunst der Variation. 1553 hatte er das Amt des Kapellmeisters am Hof des Vizekönigs von Neapel inne (einer der Staaten, der auf der italienischen Halbinsel unter spanischer Herrschaft stand), des Don Fernando Alvarez de Toledo (1507-1582), dritter Herzog von Alba, Generalleutnant der Truppen Karls V. und Philipps II. und später Gouverneur der Niederlande (1567-1573). Es scheint, dass Diego Ortiz im Fürstenpalast fünf Jahre danach (1558) dieselben Funktionen des Kapellmeisters übernahm. Der letzte Hinweis auf den Musiker erscheint im Werk des Scipione Cerreto: Della Prattica Musica vocale et stromentale, Napoli 1601, wo Ortiz „zu den hervorragenden Komponisten der Stadt Neapel“ gerechnet wird, „die heute verschwunden sind“. Er war auch ein hervorragender Polyphoniker, wie es bescheinigt wird in seinem Musices liber primus, Hymnos, Magnificas, Salves, Motecta, Psalmos, aliaque diversa cantica complectens, 1565 in Venedig gedruckt. Diese bedeutende Sammlung von polyphonen Sakralstücken enthält 69 Kompositionen für 4 bis 7 Stimmen.

Als unbestrittenes Beweisstück für das hervorragende Niveau der spanischen Musiker des 16, Jahrhunderts in der Kunst der instrumentalen Variation begnügt sich das Werk von Diego Ortiz ebensowenig wie das von Antonio de Cabezón und der Vihuelisten seiner Zeit damit, die geniale Musikerpersönlichkeit des Autors wiederzuspiegeln, sondern zeugt auch von einer vollendeten technischen Reife im Sinne eines erstrangigen musikalischen Stils; dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass diese Werke in den allerersten Anfängen der Instrumentalmusik geschrieben wurden. Für die Entwicklung der europäischen Musik in dieser ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist die Abhandlung von Diego Ortiz ein wesentlicher Beitrag zur allmählichen Herausbildung einer individuell gewordenen Instrumentalsprache, die schon frei ist von den durch einen rein vokalen Stil auferlegten Beschränkungen. Auch ist sie an der Entstehung von neuen Formen und Möglichkeiten beteiligt wie etwa die kontrapunktische oder ornamentale Variation, das Ostinato oder der Basso continuo, die entscheidende Bedeutung für die Instrumental- und Vokalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts erhalten.

Die Kunst von Diego Ortiz entspricht einer ästhetischen Konzeption, die genau in der Mitte zwischen der Strenge und dem Purismus liegt, wie sie Juan Bermudo in seiner Declaración de Instrumentos Musicales, Osuna 1555, propagiert, und der ornamentalen, mit interpretatorischer Freiheit gekoppelten Fülle, wie sie Tomás de Santa Maria in seiner Arte de tañer Fantasia, Valladolid 1565, vertritt. Hier möchten wir den Gegensatz zwischen der dekorativen Fülle des plateresken Stils und der edlen Strenge des herrerischen Stils betonen, der so treffend von Philipp II. definiert worden war: „Schlichtheit in der Form, Strenge des Ganzen, Adel ohne Anmaßung, Majestät ohne Prunk“. Parallel treffen diese beiden ästhetischen Konzeptionen, die sich nach wie vor in der Schlichtheit der Form und dem Reichtum der Verzierung zeigen, vollkommen in den Werken des Musikers aus Toledo zusammen, in der organischen Entwicklung jedes Stücks, wodurch eine vollkommene Ausgewogenheit erreicht wird, durch die das Wesen der spanischen Renaissance selbst hindurchscheint.

Der Trattado de Glosas besteht aus zwei Büchern. Ersteres nennt außer einer Erklärung zu der „Art, zu diminuieren“, viele sorgfältig ausgesuchte Beispiele für „glosas“ (ornamentale Variationen) über verschiedene „clausulas“ (Kadenzen in ihrer melodischen Form) über „punctos“ (melodische aufsteigende und absteigende Intervalle von Sekunden, Terzen, Quarten und Quinten) oder über „pasos“ (Notenabfolge in zusammengefassten Stufen). Diese Arten der Diminution sind vor allem den Gambisten „en concierto“ zugedacht, also für das Zusammenspiel, können aber auch für andere Instrumentalisten der damaligen Zeit angewendet werden.

Laut Diego Ortiz kann man auf zwei Arten die Kunst der Diminution richtig ausüben: „Die erste und perfekteste ist dergestalt, dass, wenn man den passo (Schritt) oder die glosa (Verzierung) auf irgendeinem punto (Punkt) ausgeführt hat und dann zum nächsten punto weitergeht, der Endpunkt der Diminution derselbe ist wie der, auf dem man die Diminution begonnen hat“. Die zweite Art in der Kunst der Diminution ist interessanter, da sie ermöglicht, „sehr schöne Dinge und elegante Verzierungen zu machen, die man allein mit der ersten (Art) nicht erreichen kann, dadurch dass man sich etwas mehr Freiheit nimmt, damit man in dem Augenblick, wo man von einem Punkt zum andern geht, nicht auf puntos llanos (verbundene Noten) verfällt, sondern dagegen so…“. Es ist interessant, festzustellen, dass in Diego Ortiz’ eigenen Kompositionen diese beiden Diminutionsarten entweder als melodische Variation oder als Bruch der im Motiv oder der Note vorhandenen Harmonien vorkommen.

In allen heute vorhandenen historischen Hinweisen wird betont, wie wichtig im 16. Jahrhundert diese Praxis der Stegreifverzierung wurde. Sie ist eines der wichtigsten Merkmale in der Kunst der Viola und dauert bis zum Ende des 17. Jahrhunderts an. Man findet sie sowohl im Violenkonsortium als auch in Kompositionen, wo das Instrument „discando“ gespielt werden kann, das heißt solo mit Cenbalo-Begleitung (oder einem anderen Tasteninstrument). Bei der ersten Konstellation bestand das gängige Repertoire aus polyphonen Stücken: Tientos, Madrigalen, Canciones, die mit mehr oder weniger spontanen und gelungenen Verzierungen gespielt wurden – je nach der Qualität und dem künstlerischen Niveau der Ausführenden. Der Hinweis „auf jedem beliebigen Instrument zu spielen oder zu singen“, der in vielen Sammlungen polyphoner Musik im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert auftaucht, ist höchstwahrscheinlich ein Überbleibsel. Es ging um eine Anpassung von ursprünglich für die Stimme geschriebener Musik an die Instrumente. Diese Kunst der Improvisation, der Diminutionen oder gleichzeitiger Variationen über verschiedene Stimmen einer polyphonen Komposition war genau festgelegt, ohne dass die Improvisationen dabei ihre Spontaneität verloren hätten, durch verschiedene Techniken und einen Stil, wie er meisterhaft im ersten Teil des Trattado de Glosas erläutert wird.

Die verschiedenen Arten, die Viola da gamba solo mit Begleitung durch ein Tasteninstrument zu spielen, sind deutlich beschrieben und vollendet dargelegt im zweiten Teil des Trattado de Glosas. Laut Ortiz „ist die erste [Art] die Phantasie, die zweite der Gregorianische Choral [und] die dritte die Komposition“. Ortiz fährt fort, was die Kunst der „Fantasia“ angehe, also allerhöchste Improvisation, „kann ich sie nicht zeigen, denn jeder spielt sie auf seine Weise, doch kann ich sagen, was zumindest nötig ist, um sie zu spielen: die vom Cembalo gespielte Fantasia muss sehr regelmäßige consonancias haben und die Viola muss sie mit einigen galanten Zügen spielen, sodass, wenn die Viola puntos-llanos-Läufe spielt (gehaltene Passagen), antwortet ihr das Cembalo entsprechend, und sie spielen einige Fugen (Imitationen), indem sich einer auf den anderen beruft, so wie man konzertant den Kontrapunkt singt“. Diese Beschreibung der gebräuchlichen Improvisationsformen in der Renaissancezeit ist von großem Interesse, da man sich dadurch gut das Maβ an Bildung, Spontaneität und musikalischer Sensibilität vorstellen kann, das bereits jeder gute Musiker damals haben musste.

Die zweite Weise, die Viola da gamba solo mit Begleitung durch das Cembalo zu spielen, ist die Entwicklung eines Kontrapunkts im „discanto“ über einem cantus firmus oder „tenores“ über ostinati. In beiden Fällen nimmt der Ostinatobass zum ersten Mal in der Musikgeschichte den Charakter des „basso continuo“ in der Bedeutung an, die dieser Begriff im 17. und 18. Jahr-hundert erhielt. Laut Ortiz muss nämlich derjenige, der die Klavierstimme spielt, auf diesem Bass eine Begleitung spielen „mit consonancias und einigen Kontrapunkten, die dem Muster der von der Viola gespielten Recercada entsprechen müssen“. Um diese Weise zu erläutern, schlägt Ortiz Seis Recercadas sobre un canto llano und Nueve Recercadas sobre tenores vor (Sieben Recercadas über einem Cantus firmus und neun Recercadas über Tenorstimmen), die einen der interessantesten Momente seiner Kunst darstellen, da sie Raffinesse mit musikalischer Phantasie verknüpfen.

Die Anweisungen zur „dritten Art, die Viola mit dem Cembalo zusammen zu spielen, betreffen die komponierten Stücke“. Sie bestätigen uns in der Ansicht, dass es bei Solointerpretationen (das heisst Viola da gamba mit Cembalobegleitung) auch gängig war („wie es üblich war zu verfahren“), „diferencias“ oder Diminutionen über polyphone Werke zu improvisieren. „Es empfiehlt sich, das Madrigal oder die Motette zu nehmen oder irgendein Werk, das man spielen möchte, und – wie zu verfahren natürlich ist – es auf dem Cembalo auszuprobieren; so kann die Viola über jedes komponierte Stück zwei oder drei, vielleicht auch mehr Diminutionen spielen“, erläutert Ortiz. Er fährt fort, indem er die Violaspieler darauf aufmerksam macht“, dass, wenn sie diese Art zu spielen ausüben, sie anders ist als die im ersten Buch vorgestellten Arten, da sie sich nur auf die konzertante Ausführung mit vier oder fünf Violen beziehen, denn in solchem Fall ist es unabdingbar für ein gutes Spielen, dass der Kontrapunkt immer mit dem Thema korrespondiert; er muss ihm immer folgen, um den Irrtum zu vermeiden, den diejenigen begehen, die, derweil sie sich bei dem verzetteln, was ihnen gefällt, das Hauptthema, was das komponierte Thema ist, zu verlieren drohen. Dagegen ist es bei dieser Art, zu spielen (Viola da gamba und Cembalo), nicht nötig, sich immer mit einer Stimme zu verbinden, und selbst wenn die Hauptstimme der Bass sein soll, kann man sich davon entfernen und nach Belieben über dem Tenor, dem Alt oder dem Sopran spielen und aus jeder dieser Stimmen das nehmen, was gefällt. Die Begründung, so vorzugehen, ist die: das Cembalo spielt die Komposition gänzlich, das he isst es spielt davon alle Stimmen, während die Viola es nur begleiten soll, indem sie dem, was gespielt wird, die Anmut gibt und den Zuhörer unterhält dank der differenzierten Saitenklänge“. Als Beispiel für das, „was zu tun sich empfiehlt“, wenn man komponierte Stücke spielt, schreibt Diego Ortiz Cuatro Recercadas sobre el Madrigal „O Felici miei“ von Jacques Arcadelt und Cuatro Recercadas sobre la Canción „Doulce memoire“ von Pierre Sandrin, die Beweise sind für den guten Geschmack und die Meisterschaft ihres Autors in dieser Kunst der Variation.

In Ortiz’ Werk bezeichnet der Begriff Recercada [Versuch, Improvisation] – wörtlich „wieder suchen“ – eher einen Zweck, also eine Absicht des Schreibens, als ein Mittel, das heisst die Form, die zur Verwirklichung dieser Absicht gewählt wird. In Technik und Aufbau stehen die Recercadas von Diego Ortiz formal der Gattung der Fantasia (Recercadas sobre la Spagna und Recercadas para Viola sola), der Variation (Recercadas sobre tenores) oder auch der „diferencia“ (Recercadas sobre el Madrigal oder sobre la Canción) nahe. Es ist interessant zu beobachten, dass die Diminution, wenn sie in allen diesen Kompositionen zum auslösenden Element wird, sich unterschiedslos als kontrapunktische Variation oder einfach als ausschmückende Diminution entwickelt, je nachdem, ob sie in ihrer Relation zu einem bestimmten Material (cantus firmus, ostinato, polyphones Werk) eine kontrapunktisch unabhängige Stimme umsetzt oder eine einfache melodische und rhythmische Veränderung desselben Materials vornimmt.

Die Ostinatobässe, über denen Diego Ortiz die Recercadas sobre tenores komponiert, entsprechen verschiedenen harmonischen und melodischen Schemata, bei denen der Bass die wichtigste Stimme war. Diese sowohl in der Vokal- wie auch der Instrumentalmusik verwendeten Grundmuster sind eng mit den berühmtesten Tänzen der Renaissancezeit verbunden. In dieser Gruppe von Recercadas [sobre tenores] finden wir die berühmte Folia (spanisch-portugiesischen Ursprungs), den alten und neuen passamezzo (italienischen Ursprungs, manchmal assoziiert mit der pavana) und die beliebte Romanesca „Guardame las vacas“, die oft im Rhythmus der Gallarda aufgeführt wird.

Es steht ausser Zweifel, dass der wesentliche Teil des Werkes dieses Musikers aus Toledo als auβergewöhnliches Zeugnis für das überdauern wird, was die instrumentale Praxis des 16. Jahrhunderts war: eine Kunst ohne jeden transzendentalen Anspruch, aber voller Leben, Phantasie und Spontaneität.

JORDI SAVALL
Übersetzung: Dorothea Preiss

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