CHRISTOPHORUS COLUMBUS Lost Paradises

Hespèrion XXI, Jordi Savall, La Capella Reial de Catalunya, Montserrat Figueras

32,99


Ref: AVSA9850

  • Hespèrion XXI
  • a Capella Reial De Catalunya
  • Jordi Savall

 


„Gut wäre diese Welt wenn wir sie so gebräuchten wie wir sollten“

Jorge Manrique (1440-1479)

Unsere Vergangenheit gehört nicht nur uns. Der geographische Raum, den unsere Kultur im Laufe der Jahrhunderte eingenommen hat, hat verschiedene Völker mit anderen kulturellen und religiösen Ausdrucksformen wie dem Islam und dem Judentum zu Zeiten des alten Hesperien aufgenommen. Doch im Laufe des Mittelalters – wie heute eine Zeit des religiösen Hasses und des Unverständnisses – verfiel das Paradies des Hesperien der „drei Kulturen“, und doch lebten trotz aller Intoleranz und Grausamkeit Araber und Juden unter uns, sie lebten wie wir, sie waren wir. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurden sie nach der Eroberung von Granada ausgewiesen oder per Erlass zum Christentum zwangskonvertiert, und ihr Abgang bedeutete das Ende einer Epoche, den Verlust eines möglichen Paradieses – so prangern es die Texte an, beweint es die Musik, beleuchtet es die Erinnerung und würdigt es unser Bewusstsein.

Parallel zu diesem Umbruch erschien eine außergewöhnliche Figur – Christoph Kolumbus, der Admiral, der 1492 die Neue Welt entdeckte. Ein neues Paradies wurde verändert: Die Ankunft der Besatzer führte einerseits zur Zerstörung und zum Verlust zahlreicher indigener Kulturen, andererseits zur Kristallisierung einer gesellschaftlichen und kulturellen Mischung, die sowohl in der alten als auch der neuen Welt sehr ertragreich war.

Gemeinsam mit den verschiedenen Texten, die die Biographie von Christoph Kolumbus begleiten, insbesondere die von ihm selbst in seinen Heften notierten, wie das weissagende Zitat des Chors der Tragödie Medea von Seneca (die die Existenz einer unbekannten Welt, die von einem kühnen Seefahrer entdeckt wird, jenseits der Insel Thule verkündet), ist die Musik aus jener Zeit ein direktes, bezeichnendes Zeugnis all dieser tief greifenden Veränderungen. Aus der Kombination dieser historischen und musikalischen Quellen entstand ein Szenario der Erneuerung, in dem die Schönheit und Gefühlsamkeit der Musik einen ausdrucksstarken Dialog mit den gesungenen Texten herstellt – die einen deskriptiv, die anderen poetisch, einige wahrlich grausam und andere dramatischer, sie alle jedoch bestens stellvertretend für das Geschehen in einer Zeit des Wandels, einer fernen Vergangenheit, die wir jedoch nicht vergessen sollten. Die Musik ermöglicht es, uns mit innigsten Gefühlen an die Berichte dieses außergewöhnlichen Jahrhunderts anzunähern, die die extreme Ambivalenz einer zugleich aufgewühlten und äußerst kreativen Zeit aufzeigt, die trotz ihrer zahlreichen Schattenseiten durch eine brillante Blüte aller Künste hervorstach. So werde den wunderbaren Weisen der Villancicos und Romances aus jener Zeit zugehört, die mit der schmerzvollen, ehrlichen Einfühlsamkeit der zeitgenössischen Berichte von Andrés Bernáldez abwechseln, den sephardischen Klageliedern, den Schilderungen von Ibn Battuta, dem Logbuch des Admirals, den zerschmetternden königlichen Erlässen sowie dem meisterhaften poetischen Wort sowohl von Juan del Enzina als auch des Granadiners Ibn Zamrak, ohne dabei das wunderbare Gedicht auf Nahuatl über die Vergänglichkeit der Welt außer Acht zu lassen.

Abgesehen von der Wiederbelebung eines bedeutenden vokal und instrumental dargebotenen musikalischen Erbes unter Berücksichtigung historischer Kriterien und der Zuhilfenahme zeitgenössischer Instrumente wünschen wir mit diesem Angebot, auch die anderen wichtigen Kulturen jener Zeit zu würdigen. So werden unsere in wertvollen Manuskripten erhaltenen höfischen Weisen durch Musik aus mündlicher Überlieferung aus der arabischen und jüdischen Kultur sowie jene einer heute unbekannten Neuen Welt ergänzt, die symbolisch vom suggestiven Klang der verschiedenen Originalflöten der alten indigenen Kulturen dargestellt werden. Die Erinnerung an die bedeutendsten Momente dieses Jahrhunderts ist nicht nur ein Einstimmen in die Feierlichkeiten des 500. Todestags von Christoph Kolumbus (1506-2006). Vielmehr möchten wir auf symbolische aber zutiefst ehrliche Weise dieses Projekt im Sinne einer notwendigen Geste der Entschädigung gegenüber zahllosen Menschen verstehen, die wir wegen ihrer Zugehörigkeit zu Kulturen und Glaubensformen, die so anders als die unseren sind, weder zu verstehen noch zu respektieren vermochten. Die Verlorenen Paradiese verbinden die Musik und die Literatur aus jener Zeit und bieten uns ein kurzes aber intensives Bild jener entscheidenden Epoche des religiösen und kulturellen Wandels, als eine alte Welt verschwand und eine neue entstand. Das Zeugnis der von Manuel Forcano ausgewählten, von ihm selbst auf Arabisch, Hebräisch, Aramäisch, Latein und Nahuatl verlesenen sowie der von Francisco Rojas und Núria Espert auf Spanisch vorgelesenen Texte und weiters die von Montserrat Figueras, Begoña Olavide, Lluís Vilamajó und den Solisten von La Capella Reial de Catalunya auf Latein, Hebräisch, Arabisch, Quechua, Ladino, Spanisch, Katalanisch und Italienisch gesungenen Lieder sind der beste Beweis für den kulturellen Reichtum einer Zeit, die sie aus unserem Horizont verschwinden sah und heute an die Bedeutung und die Notwendigkeit des Dialogs und des Verständnisses zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen erinnert, um in diesem konfliktträchtigen 21. Jahrhundert ein so umfangreiches und bedeutungsvolles Kulturerbe zu wahren und wieder herzustellen.

Die Verlorenen Paradiese stellen eine verdiente Anerkennung der Literatur, Geschichte und Musik des alten Hesperien und der Neuen Welt dar. Im vollen Bewusstsein, dass uns über fünf Jahrhunderte von jenen fernen Zeiten trennen, glauben wir somit, dass so wie die dichterische Qualität und Ausdruckskraft der besungenen Erinnerung uns durch deren dramatischsten Ereignisse erschüttert, die Schönheit und Lebenskraft ihrer Melodien uns auch zutiefst bewegen können. Dabei erinnern wir uns auch daran, dass obwohl ihre künstlerische Seite stets zeitlos ist, all diesen Weisen, ihren Instrumenten, Formen, Klängen, letzten Endes ihrem Stil unweigerlich der Stempel ihrer Zeit aufgedruckt wurde. Daher haben wir uns für eine genaue vokale und instrumentale historische Anpassung entschieden, ergänzt durch die entsprechende kreative Vorstellungskraft, durch die sich die Vokal- und Instrumentalsolisten der Musikensembles Hespèrion XXI und La Capella Reial de Catalunya auszeichnen, sowie die Mitwirkung der auf orientalische Traditionen und alte Instrumente (indigene Flöten) der Neuen Welt spezialisierten Solisten.

Der Dichter Jorge Manrique schrieb: „Was ward aus jener Dichtung, was spielten die gereimten Weisen?“ Mit diesem CD-Buch bieten die an diesem Projekt mitwirkenden Schriftsteller, Musikwissenschaftler, Leser, Sänger und Instrumentisten nicht nur eine Antwort auf die Frage des Dichters, sondern auch eine Möglichkeit zur Überlegung – die lebendige Musik aus fernen Zeiten, angepasst an die Erinnerung an unsere Geschichte, kann zur Seele einer erneuerten kritischen, humanistischen Betrachtung unserer Anfänge wandeln und uns vielleicht sogar dazu verhelfen, uns ein bisschen von einer gewissen kulturellen Amnesie zu befreien, die in Bezug auf unsere Musik besonders gravierend ist. Nur auf diese Weise, durch die Neuentdeckung und Wiederbelebung des alten Musikerbes sowie durch die Annäherung an die Geschichte und die Vergangenheit aus einer anderen Perspektive, werden wir in der Lage sein, die Erinnerung der Zukunft besser zu erdenken und zu errichten.

JORDI SAVALL
Bellaterra, Sommer 2006

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