BEETHOVEN – Révolution Symphonies 6 à 9

Jordi Savall, Le Concert des Nations

34,99



ALIA VOX
AVSA9946

CD1 : 42′ 06”
CD2 : 64′ 04”
CD3 : 63′ 58”

LUDWIG VAN BEETHOVEN
(1770-1827)
Révolution
Symphonies 6 à 9
Intégrale des Symphonies. Volume 2

CD1

1-5. Symphonie nº 6 en Fa majeur Op. 68 “Pastorale” (1808) 42’06

CD2

1-4. Symphonie nº 7 en La majeur Op. 92 (1811-1812) 39’17

5-8. Symphonie nº 8 en Fa majeur Op. 93 (1812) 24’52

CD3

1-7. Symphonie nº 9 en Ré mineur Op. 125 (1822-1824) 63’58

Sara Gouzy, Laila Salome Fischer, Mingjie Lei, Manuel Walser

La Capella Nacional de Catalunya

LE CONCERT DES NATIONS

Jakob Lehmann concertino

Direction : Jordi Savall

Les Symphonies nº 6 et nº 7 ont été enregistrées du 18 au 21 juillet 2020 et
la Symphonie nº 9 a été enregistrée les 30 septembre et le 1er octobre 2021
à la Collégiale du Château de Cardona (Catalogne).

La Symphonie nº 8 a été enregistrée les 10 et 11 octobre 2020
au National Forum of Music (NFL) à Wroclaw (Pologne).

Enregistrement, Montage et Mastering SACD : Manuel Mohino

TEXTES EN FRANÇAIS, ENGLISH, CASTELLANO, CATALÀ, DEUTSCH, ITALIANO

 

Die symphonische Genialität Beethovens

Die Gesamtaufnahme der neun Symphonien Beethovens in Zeiten
der Coronavirus-Pandemie: ein „heroisches“ Abenteuer

Die Vollendung unseres Projekts, die Gesamtaufnahme aller Symphonien Beethovens, das 2019 mit den Symphonien Nr. 1 bis 5 begonnen hatte, wurde 2020 durch die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie verzögert. Doch trotz der zahlreichen Schwierigkeiten und Komplikationen, bedingt durch Versammlungsbeschränkungen in geschlossenen Räumen und die obligatorischen sanitären Kontrollen, haben wir im Jahr 2020 unsere erste und zweite Beethoven-Akademie 250 zur Vorbereitung der Symphonien Nr. 6 und 7 im Juli durchführen können, und wie geplant hat die den Symphonien Nr. 8 und 9 gewidmete dritte Akademie in La Saline Royale d’Arc-en-Senans stattgefunden. Die vierte Akademie begann am 6. Oktober mit der Arbeit an den instrumentalen Sätzen der Symphonien Nr. 8 und 9, und am 7. Oktober fingen wir mit den Chorproben an, in der Absicht das Konzert am 9. Oktober aufzuführen und aufzunehmen. Doch unglücklicherweise erhielten wir am 8. Oktober die Nachricht, dass vier Sänger des Chors an COVID 19 erkrankt waren. Ursprünglich hatten wir die Einspielung der Neunten mit dem Chorfinale des vierten Satzes beginnen wollen. Nach dem ersten Schrecken und in der Befürchtung, mit großer Wahrscheinlichkeit selbst angesteckt worden zu sein, haben wir das Konzert am 9. Oktober retten können. Von der auf dem Programm stehenden Neunten Symphonie haben wir nur die ersten drei Orchestersätze gespielt, und zwar in der Reihenfolge 1, 3 und 2 (wie es schon zu Beethovens Zeiten geschehen war). Ergänzend spielten wir die Symphonie Nr. 7. Am 10. Oktober haben wir noch die Symphonie Nr. 8 aufnehmen können. Am 11. Oktober sind wir alle nach Hause gefahren, um den PCR-Test durchführen zu lassen.

Es ergab sich leider, dass der Test für einige von uns (darunter ich selbst) positiv ausfiel, was uns zwang, die ganze geplante Konzerttournee abzusagen, die uns nach Paris, Barcelona, Hamburg, Mailand, Turin, Rimini, Lissabon usw. hätte führen sollen. Das bedeutete eine echte künstlerische und ökonomische Katastrophe (aber ebenso eine Krise für unseren Gemütszustand). Glücklicherweise blieb die Krankheit für die meisten von uns – mit Ausnahme von zwei nachhaltiger betroffenen Musikern – ohne schwerwiegende Folgen, abgesehen von einer großen Müdigkeit und einem drei Wochen währenden totalen Erschöpfungszustand.

In der ersten Hälfte des Jahres 2021 haben wir noch sehr stark unter den globalen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie gelitten. Viele Konzerte wurden abgesagt. Doch glücklicherweise gelang uns die komplette Einspielung der 9. Symphonie am vergangenen 30. September und 1. Oktober am Ende unserer zweiten Schubert-Akademie (Cardona, 26. – 29. September 2021), in deren Verlauf wir auch die Symphonien Nr. 8 in h-Moll („Die Unvollendete“) und Nr. 9 in C-Dur von Schubert aufgenommen haben. Bei dieser Gelegenheit haben die Sänger der neuen CAPELLA NACIONAL DE CATALUNYA mitgewirkt, die sich aus Solisten von LA CAPELLA REIAL DE CATALUNYA und jungen Sängern aus ganz Europa gebildet hat (nach dem selben Prinzip, das wir bei der Zusammensetzung des Orchesters Le Concert des Nations befolgen). Sie wurden im Verlauf des Jahrs 2021 durch Vorsingproben in Paris und Barcelona ausgewählt.

Jetzt können wir die beiden komplizierten und gefährlichen Jahre allmählich vergessen, denn wir haben die Corona-Pandemie endlich im Griff. Es ist uns daher eine große Freude, zum Abschluss der 2019 begonnenen Gesamtaufnahme das Zehnte Album unseres Projekts Beethoven Revolution mit den vier letzten Symphonien Nr. 6 bis 9 zu präsentieren. Hierzu eine kleine scherzhafte Beobachtung: Da Beethoven am 16. Dezember 1770 geboren wurde, liegt das Jahr seines 250. Geburtstags eigentlich zwischen Dezember 2020 und Dezember 2021 und wir kommen gerade noch zur rechten Zeit, um das Jubiläumsjahr des großen Genies der symphonischen Komposition und der Musik überhaupt mit dem zehnten Album der Gesamtaufnahme und dem Konzert im Gran Teatre del Liceu in Barcelona am 15. Dezember 2021 würdig zu beschließen. Oder?

Der historische Kontext und die von Beethoven vertretene Reform durch die Einführung der Tempoangaben nach dem von Mälzel erfundenen Metronom

Der historische Kontext: Wir befinden uns im Jahr 1806, Beethoven hat gerade seine Klaviersonate „Appassionata“ und die drei Rasumowsky-Quartette abgeschlossen. Seine Reaktion auf den „Strudel der Gesellschaft“ (die angesichts der absoluten Macht der Aristokratie eine wahrhaft feindliche Welt werden kann) erhellt den Gemütszustand des Komponisten, aber auch sein Selbstvertrauen in die eigene Schaffenskraft und die innere Gewissheit des befreienden Auswegs. Im Mai 1806 beendete Beethoven die ersten Entwürfe der Sechsten Symphonie. Genügsam trug er dem Freund Graf Franz von Brunsvik auf, seine Schwester Therese… brüderlich zu umarmen. Es gab (so weit bekannt) keine neue Liebe in seinem Leben. Brigitte und Jean Massin rufen uns in ihrer Biografie Beethovens ins Gedächtnis, dass Beethoven „auf den Misserfolg seiner Oper Fidelio in den folgenden Monaten mit einer Verdoppelung seiner schöpferischen Tätigkeit und einer siegesgewissen Selbstbestätigung reagiert. Er wagt es sogar, der menschlichen Gesellschaft noch entschiedener die Stirn zu bieten. In jenem Jahr, in dem die Entwürfe der Fünften und Sechsten Symphonie entstehen, ist er sich seiner sicherer denn je, und wenn die ,Kabale‘ seiner Oper das Rückgrat brechen konnte, so war sie doch nicht in der Lage, ihn an seinem Sieg über das Schicksal zweifeln zu lassen“. Am Rand einer Skizze zum Streichquartett Nr. 9 notierte Beethoven: „Ebenso wie du dich hier in den Strudel der Gesellschaft stürzest, ebenso möglich ist es, Opern trotz allen gesellschaftlichen Hindernissen zu schreiben. Kein Geheimnis sei dein Nichthören mehr, auch bei der Kunst.“ Beim Komponieren der drei Rasumowsky-Quartette bestärkt sich sein Stolz. Als der von ihrem revolutionären Charakter skandalisierte Geiger Felix Radicati erklärte, diese Quartette seien keine Musik, entgegnete Beethoven ihm in aller Ruhe: „O, sie sind auch nicht für Sie, sondern für eine spätere Zeit!“ Als aber sogar der Interpret seiner Quartette, Ignaz Schuppanzigh, die Schwierigkeiten der Aufführung im Streichquartett Nr. 7 zur Sprache brachte, fuhr Beethoven ihn an: „Glaubt Er, daß ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?“

Ebenfalls in jene Zeit fällt eine heftige Auseinandersetzung mit Fürst Lichnowsky. Beethovens beinahe zweimonatiger Besuch auf Schloss Grätz in Oberschlesien neigte sich dem Ende zu. Die preußische Armee hatte durch Napoleon in Jena und durch General Davoût in Auerstedt fast gleichzeitig eine vernichtende Niederlage erlitten. Französische Offiziere waren im Schloss des Fürsten einlogiert, was schließlich den Anlass zum zeitweiligen Bruch Beethovens mit seinem Mäzen gab. Noch einmal seien Brigitte und Jean Massin zitiert: „Lichnowsky, bewegt von dem Wunsch sich den Besatzern von der angenehmsten Seite zu zeigen, erinnerte sich in den innersten Tiefen seines fürstlichen Seins der feudalen Rechte, die er auf seinem Landsitz besaß. Musiker sind zur Unterhaltung da und man kann sich den Luxus erlauben, auf ihre Empfindlichkeiten einzugehen. Doch wenn es ernst wird, muss man sie wie Hausangestellte behandeln. Daher beschloss Lichnowsky, der sonst in seiner unaussprechlichen Güte so weit ging, Beethoven nicht in seinen schöpferischen Phasen zu belästigen, einmal deutlich zu werden.“ Er befahl Beethoven wiederholt, für die französischen Offiziere etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Das brachte Beethoven derart auf, dass er sich rundweg weigerte, dem als servile Dienstleistung empfundenen Auftrag nachzukommen. „Ohne das Einschreiten von Graf Oppersdorf und einiger anderer wäre es zu einer gewaltigen Schlägerei gekommen. Beethoven hatte schon einen Stuhl aufgehoben um ihn auf dem Kopf des Fürsten zu zerschmettern, der sich anschickte die Tür zu Beethovens Zimmer aufzubrechen, hinter der sich jener verschanzt hatte. Zum Glück warf Oppersdorf sich dazwischen.“ Einer Aussage des mit Beethoven befreundeten Theaterdirektors Ignaz von Seyfried zufolge – vermutlich ebenfalls Augenzeuge des Vorfalls – „hatte Lichnowskys wohl eher wenig ernst gemeinte Drohung, den Komponisten einzusperren, zur Folge, dass dieser umgehend bei Nacht und Nebel zum über eine Meile entfernten Nachbarort aufbrach und wie auf Windesflügeln mit der Extrapost nach Wien eilte. […] Lichnowsky hatte in seiner Rolle als Erbprinz und Feudalherr deutlich gesprochen. Beethovens Antwort war ebenso deutlich. Nur wenig mehr als zwanzig Jahre zuvor war Mozart wutschnaubend fortgegangen, als er vom gräflichen Hofkammerrat Arco einen Tritt in den Hintern erhalten hatte. Beethoven sandte, noch bevor er Wien erreichte, seinem ,Mäzen‘ eine kurze Note. Lichnowsky, empfing sie, las sie und warf sie verächtlich auf den Boden. Sein Arzt, Dr. Weiser, blieb zurück um sie aufzuheben. Er hat uns den von gesundem Menschenverstand zeugenden Satz überliefert: ,Fürst! was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten gibt es Tausende. Beethoven nur einen.‘“

1817 schlug Beethoven in dem an einen seiner Hauptverleger gerichteten Brief vom 23. Januar (über die Ersetzung des Worts Pianoforte durch „Hammerklavier“) eine Reform der musikalischen Sprache im Sinn einer Entitalianisierung vor. Diesen Gedanken verfolgte er weiter. Beethoven merkte, dass die alten musikalischen Bezeichnungen nicht mehr dem Charakter seiner Musik entsprachen. In einem undatierten, vermutlich zur gleichen Zeit verfassten Brief an den Musiker Hofrat Ignaz von Mosel insistierte Beethoven gleichermaßen auf der Modernität als auf dem nationalen Anspruch der von ihm vertretenen Reform: „Herzlich freue ich mich, Ihre Ansicht über die Bezeichnung der Sätze zu teilen, die uns noch aus der Barbarei der Musik überliefert ist; denn kann es etwas Absurderes geben als „allegro“, was ein für alle Mal fröhlich bedeutet, wo wir oft ziemlich weit von einer solchen Idee dieses Satzes entfernt sind, so dass das Stück selbst das Gegenteil von der Bezeichnung aussagt? […] Etwas anderes sind die Wörter, die den Charakter eines Stückes bezeichnen; diese dürfen wir nicht aufgeben, denn wenn das Maß, genau genommen, eher der Körper ist, beziehen sich diese bereits auf den Geist des Stückes. Was mich betrifft, so denke ich schon lange daran, solche absurden Bezeichnungen wie allegro, andante, adagio, presto aufzugeben. Mälzels Metronom bietet uns dazu die beste Gelegenheit.“ [aus dem Französischen zurückübersetzt – C. K.]

Zu den wichtigsten Entscheidungen der Interpretation gehörte zweifellos die wesentliche Frage des von Beethoven geforderten Tempos, das wir ganz genau den Metronomangaben entnehmen können, die der Komponist selbst uns hinterlassen hat, „um die Aufführung meiner Kompositionen abzusichern, besonders was die von mir festgelegten Tempi betrifft, die zu meinem Bedauern so oft missachtet werden. Trotz der äußerst exakten, von Beethoven eigenhändig gemachten Angaben vertreten leider zahlreiche Musiker oder Dirigenten die Ansicht, dass sie in der Praxis nicht durchführbar sind oder sie verachten sie als antikünstlerisch. Zu dieser Frage nimmt Rudolf Kolisch Stellung, wenn er versichert: „zumindest alle Tempi, die Beethoven von den Streichern verlangt, sind auf der Grundlage der heutigen durchschnittlichen Spieltechnik ausführbar“.

Wie ich schon anlässlich der Publikation des ersten Albums bemerkt habe, stand bei unseren Überlegungen und Vorbereitungen dieser neuen Interpretation der gesamten neun Symphonien Beethovens der grundlegende Gedanke im Vordergrund, den ursprünglichen organischen Klang des Orchesters wiederzufinden, den Beethoven sich vorgestellt hatte, und über den er auf der Grundlage der zu seiner Zeit im Orchester verwendeten Instrumente verfügen konnte. Wie auch bei den ersten fünf Symphonien haben wir sowohl die Originalhandschriften als auch die noch existierenden bei den ersten Aufführungen verwendeten Materialien studiert und verglichen, auch unter Hinzunahme der neuen auf der Grundlage dieser Quellen hergestellten Editionen, um alle Angaben der Dynamik und Artikulation überprüfen zu können.

Unsere ganze Orchesterarbeit wurde mit Instrumenten durchgeführt, die den zur Beethovenzeit verwendeten entsprechen, und auch die Zahl der Interpreten ist ähnlich wie die bei Beethovens ersten Aufführungen seiner Symphonien, d. h. insgesamt 55 bis 66 Musiker, je nach Symphonie. Wir haben 35 Instrumentalisten aus dem Ensemble Le Concert des Nations mit langer Berufserfahrung ausgewählt, von denen viele uns schon seit 1989 begleiten. Die restlichen 25 Orchestermitglieder, junge Musiker aus ganz Europa und anderen Kontinenten, haben in einem Auswahlverfahren durch ihr Vorspiel gezeigt, dass sie zu den besten ihrer Generation gehören. Unsere Orchesterarbeit war beherrscht vom Geist der Kammermusik, der es erlaubt, allen Details jeder instrumentalen oder vokalen Stimme höchste Aufmerksamkeit zuzuwenden, ohne ihre grundlegende Funktion für den formalen Aufbau der Gesamtstruktur jedes Satzes aus dem Auge zu verlieren.

Von Anfang an war uns bewusst, dass die andere grundlegende Frage unseres Projekts die Probenzeit darstellte, die erforderlich war, um eine so bedeutende und komplexe Arbeit in Angriff zu nehmen und zu einem guten Ende zu führen. Über ausreichende Probenzeit zu verfügen war eine der wesentlichen Bedingungen für die tiefgehende Beschäftigung mit der Gesamtheit der neun Symphonien. Im Sinne einer gelungenen Durchführung und einer kohärenten Gliederung des ganzen Zyklus haben wir die neun Symphonien auf vier große Programme verteilt, um sie in zwei Jahren vorzubereiten. Jedes Programm wurde in jeweils zwei intensiven Akademien von jeweils sechstägiger Dauer studiert und geprobt. Die erste Phase, die wir „Vorbereitende Akademie“ nannten, galt der Reflexion, dem Experimentieren und der Festlegung aller für eine gelungene Interpretation wesentlichen Elemente. Die zweite Phase, die sogenannte „Akademie der Vervollkommnung“ diente dem ganzen Orchester und jedem Instrumentalisten auf individueller Ebene dazu, alle fundamentalen Aspekte zu vertiefen, die für eine getreue Interpretation im Geist jedes Werks erforderlich waren.

E. T. A. Hoffmann schrieb am 4. Juli 1810 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung: „So öffnet uns auch Beethovens Instrumental-Musik das Reich des Ungeheueren und Unermesslichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen, und alles in uns vernichten, nur nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die, schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der, Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsre Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher.“

„Das neue Gleichgewicht der Instrumentengruppen (Streicher und Bläser)“, bemerkt André Boucourechliev, „wird bei unseren heutigen Interpretationen nicht etwa hervorgehoben, sondern oft missachtet. Die Hypertrophie der Streichergruppe ist eine der hartnäckigsten Neigungen des ‚Symphonismus‘, und viele übersetzen den Ausdruck ‚Symphonie‘ in ‚Orchester mit 120 Ausführenden‘. Ignaz Moscheles berichtet, dass Beethoven vor allem Verwirrung fürchtete und nicht mehr als etwa sechzig Interpreten für seine Symphonien haben wollte“. Das neue Gleichgewicht zu respektieren, ist für uns fundamental. Hauptsächlich darum haben wir uns für eine ähnliche Orchestergröße entschieden, wie sie Beethoven bei den ersten Aufführungen seiner Symphonien zur Verfügung stand: 18 Bläser und 32 Streicher (10 V1, 8 V2, 6B, 5CL, 3KB), entsprechend den in der damaligen Epoche gebräuchlichen Instrumenten und ihrer Stimmung (a = 430 Hz). „Beethovens Orchester ist kein Instrument der Macht, kein Sprachrohr und auch nicht eine ‚orchestrale‘ Einkleidung seines musikalischen Denkens. Es ist dessen Körper, es ist dieses Denken selbst.“

In der heutigen Zeit haben sich viele Kommentatoren, Musikologen und Musikkritiker über Beethovens Werk und besonders die neun Symphonien geäußert, aber in Wirklichkeit drückt sich das Geheimnis seines Genies allein in der Sicherheit des schöpferischen Aktes aus und scheint so durch sein Werk hindurch. Diese Energie, die so viele Nachfolger überrascht hat, war nie übertragbar – außer bei solchen Komponisten wie Bartók, die derselben Spezies von Musikern angehören –, weil der Schaffensakt bei ihm oft die Form eines Kampfes annimmt. Beethoven ist, um schaffen zu können, oft gegen sich selbst angetreten, sein Werk ist das Resultat eines schöpferischen Vorgangs, der eine neue Kunstauffassung bezeugt. Erinnern wir uns daran, dass Beethoven sich – direkt nach Haydn und Mozart, welche die Sonate, das Streichquartett und vor allem die Symphonie auf ein völlig neues qualitatives Niveau gebracht hatten – an einem Punkt der musikalischen Entwicklung befand, wo der klassische Stil Höhepunkte ohnegleichen erreicht hatte. Bernard Fournier bemerkt zu Recht: „In der Nachfolge der beiden großen Wiener zu komponieren, von denen jeder ein eigenes neues musikalisches Universum in so großer Vollkommenheit geschaffen hat, stellte eine Herausforderung dar, deren Ausmaß lange den Kommentatoren verborgen blieb, weil Beethovens Schatten sogleich eine neue Herausforderung für seine eigenen Nachfolger darstellte“.

Das Paradox, mit dem wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sind, hat René Leibowitz bereits vor 40 Jahren in seinem Buch Le compositeur et son double [Der Komponist und sein Doppelgänger] dargestellt. Er erinnert an „den absolut privilegierten Platz, den Beethovens Werk im Musikleben unserer Zeit einnimmt (gemäß den Resultaten einer kürzlichen Umfrage über den Beliebtheitsgrad großer Komponisten bei den Musikliebhabern)“. Daher fährt er fort: „Man wäre versucht daraus abzuleiten, dass das Publikum und die Interpreten hier ein wirkliches und tiefes Bewusstsein der authentischsten musikalischen Werte beweisen, denn zweifellos haben diese Werte gerade in Beethovens Werk eine ihrer höchsten und angesehensten Ausdrucksweisen gefunden. Ehrlich gesagt entbehrt eine solche Ableitung nicht jedes Fundaments. Somit können wir bestätigen, dass die berühmte Theorie, ein geniales Werk würde sich mit absoluter Sicherheit immer behaupten, ein Körnchen Wahrheit enthält. Man kann noch hinzufügen, dass Publikum und Interpreten – ob völlig bewusst oder nicht – unvermeidlich bei ihrer Wahl denjenigen Werken den Vorzug geben, die es am meisten verdienen. Daher kommt man nicht umhin zu denken, dass der Fall Beethoven, will man auf ihn die vorher ausgeführten Theorien anwenden, äußerst verstörend ist. Tatsächlich gibt es vielleicht keinen anderen Komponisten, der so unablässig falschen und inkongruenten Interpretationstraditionen unterworfen worden ist, Traditionen, die sogar so weit gehen, den ganzen Sinn von Werken zu deformieren und zu verbergen, die eine ungeheure Popularität genießen […] Eine paradoxe Situation, wenn überhaupt; denn man scheint etwas anzubeten, was man nur durch Deformationen kennt, und man deformiert systematisch etwas, was man anbetet.“

Unsere Forschungsarbeit und Interpretation hat alle diese bedenkenswerten Elemente berücksichtigen wollen, indem wir von den echten Quellen und einer ursprünglichen Konzeption ausgegangen sind. Um das Hauptziel zu erreichen, nämlich in unser 21. Jahrhundert die ganze Fülle und Schönheit dieser Symphonien hinüberzubringen – die so bekannt sind und allzu oft überdimensioniert und überladen aufgeführt werden – gilt es, den Werken das Wesentliche ihrer eigenen Energie zurückzugeben. Das gelingt durch ein wahres natürliches Gleichgewicht der Klangfarben und der Qualität des natürlichen Orchesterklangs, der sich – in der damaligen Epoche – wie folgt zusammensetzt: aus den zeitgemäßen Streichinstrumenten (mit Darmsaiten und historischen Bögen); Blasinstrumenten aus Holz (Holzbläser) wie Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotts und Kontrafagotts; Metallinstrumenten (Blechbläser) wie Barockposaune, Hörnern und Naturtrompeten sowie den Pauken der Epoche, die mit Holzschlägeln gespielt werden. Das Resultat, eine revolutionäre Brillanz, Artikulation, Ausgeglichenheit und Tonstärke, bilden die Basis einer Dramaturgie, die gemäß den Vortragsbezeichnungen auf dem Respekt für die Dynamik der von Beethoven gewollten Tempi und der sich daraus ergebenden Phrasierung fußt und von der spirituellen Kraft seiner Botschaft getragen wird.

„Durch ihr neuartiges spirituelles Potenzial sowie durch ihre klangliche Struktur“, bemerkt André Boucourechliev in seinem unverzichtbaren Buch über den Komponisten, „überschreitet die symphonische Musik Beethovens auf Anhieb jeden vorbestimmten Charakter und Kontext, sie schwingt sich auf zu ihrer eigenen Entdeckung und erreicht – ja erweckt – ein neues Publikum. Dieser in Bewegung geratenen Gesellschaft, dieser der Zukunft, den unvorhersehbaren Wünschen, den nicht formulierten Forderungen zugewandten Gesellschaft, all diesen Unbekannten, wird Beethoven das geben, wonach sie sich sehnen, ohne es selbst schon zu wissen, und sogar ohne es selbst schon zu wollen. Neue Beziehungen, gewagte Kraftproben, wo der Vorbehalt und das Missverständnis an die kollektive Erregung grenzen […] Dieses dauernde Abenteuer einer freien Konfrontation leben wir gefahrvoll in der heutigen Musik weiter fort. Beethoven vor allem gebührt der Ruhm, es eingeführt zu haben.“ Aus dieser den Symphonien unseres Komponisten innewohnenden revolutionären Kraft entsteht, dank der vielfältigen mächtigen Stimme des Orchesters, ein dauernder Wachzustand des schöpferischen Geistes, dessen Jugend sich nie erschöpft.

JORDI SAVALL

Hamburg, 9. Oktober 2021

Übersetzung: Claudia Kalász

Kritik

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