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ALTRE FOLLIE 1500 – 1750

Hespèrion XXI, Jordi Savall

17,99

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Ref: AVSA9844

  • Hespèrion XXI
  • Jordi Savall

Als sich in den meisten europäischen Ländern die Zentralmacht des absolutistischen Staates während des 15. und 16. Jahrhunderts festigte, wurden die königlichen Höfe in ganz Europa zum Kern des Kultur- und Kunstlebens ihrer jeweiligen Länder. Dort versammelte sich eine Elite adeliger Hofleute, von denen erwartet wurde, die Grundlagen der Dichtung, des Tanzes sowie der Vokal- und Instumentalmusik zu beherrschen, ebenso wie sie ein strenges, komplexes Ettikett in allen Facetten des gesellschaftlichen Alltags einzuhalten, einen luxösen, sich ständig wandelnden Kleidungsstil zu pflegen oder mit einer Dame ein charmant-zurückhaltendes Gespräch führen zu wissen hatten. Dabei wurden die aus früheren Jahrhunderten übernommenen Traditionen der Volkskultur als solche nicht unbedingt abgelehnt, jedoch wurden sie einem intensiven Wandlungsprozess unterzogen, im Zuge dessen sie ihre offensichtlichsten ländlichen Konnotationen verloren und neue, verfeinerte Regeln übernahmen, die einen langwierigen Lernprozess erforderten, der nur den Kindern des Adels ab einem ganz jungen Alter zugänglich war. Innerhalb dieses Netzes der adeligen Höfe der verschiedenen Länder verkehrten internationale, allumfassende Modelle, die dem direkten Beispiel jenes Hofs folgten, der seine jeweilige Zeit am tiefsten prägte – jener der Könige von England zu Beginn des 15. Jahrhunderts, als diese sich am Höhepunkt ihrer militärischen und politischen Macht auf dem europäischen Festland befanden, unmittelbar danach jener der Herzöge von Burgund, als sie die mit Abstand reichsten Herrscher Europas waren, jener der Könige von Frankreich im Zuge ihres Sieges über Burgund sowie jene der reichsten italienischen Staaten zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als die künstlerischen Vorbilder der italienischen Renaissance unwiderstehlich geworden waren. Doch jeder einzelne Hof – natürlich in größerem oder geringerem Maße – hielt auch die starken Bande mit seinen jeweiligen einheimischen kulturellen Traditionen aufrecht, selbst wenn sich diese im Zuge dieses Prozesses in einem unterschiedlich radikalen Ausmaß dem allgemeinen Ziel eines unmissverständlichen Erscheinungsbilds aristokratischer Vornehmheit unterwarfen.
Die höfischen Tänze der Renaissance gehören zu den ausdrucksstärksten Produkten dieses Phänomens. Die meisten entstanden ursprünglich als in ihrem musikalischen und choreographischen Wesen einfache und anspruchslose Bauerntänze, die sowohl im Tanzschritt als auch in der Instumentation einen breiten Raum an Improvisation ließen. Im Zuge ihres Eintritts auf die neue Bühne der aristokratischen Paläste im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurden sie jedoch mit einheitlicheren Regeln versehen, technisch ausgereifter, bar jeglichen Scheins bäuerlicher Ungehobeltheit in den Händen professioneller Tanzmeister, Komponisten und Virtuosen dem feinen Geschmack ihrer neuen Ausführer und Zuschauer angepasst. Einige Tänze vermochten dabei, den Originalmodellen etwas näher zu bleiben, andere wurden jedoch in eine recht neue Form gegossen, und am Ende des 17. Jahrhunderts waren einige davon schließlich im höchst weltbürgerlichen barocken Modell der instrumentalen Suite und Sonate aufgegangen.
Die Folia ist hier wohl in diese letztere Kategorie einzustufen. Ursprünglich war sie ein Volkstanz der portugiesischen Bauern und wird auch als solcher im Werk des bedeutendsten Dramatikers der portugiesischen Renaissance, Gil Vicente, oft erwähnt, üblicherweise in Verbindung mit ländlichen Figuren wie Bauern und Hirten, die ein freudiges Ereignis mit lautem Gesang und heftigem Tanz feiern („cantadme por vida vuestra en portuguesa folia la causa de su alegría“, bzw. „singet mir bei eurem Leben eine portugiesische Folia, eurer Freude Grund“). Dieser Ursprung wird auch vom spanischen Theoretiker Francisco de Salinas in seiner berühmten, 1577 verfassten Abhandlung De musica libri septem („ut ostenditur in vulgaribus quas Lusitani Follias vocant“, bzw. „wie die von den Portugiesen Folias genannten Volkslieder vorweisen“) bestätigt. Gian Battista Venturino, Sekretär des päpstlichen Gesandten Kardinal Alessandrino, der kurz nach 1570 Portugal besuchte, beschreibt dies näher: „La follia, era di otto huomini vestiti alla Portughesi, che con cimbalo et cifilo accordati insieme, battendo con sonaglie à piedi, festeggiando intorno à un tamburo cantando in lor lingua versi d’allegrezza…“, bzw. „Die Follia bestand aus acht in portugiesischer Tracht gekleideten Männern, die mit gleichgestimmten Becken und Schellentrommeln und mit an ihre Füße gebundenen Rasseln schüttelnd um eine Trommel herum feierten und in ihrer Sprache Freudenverse sangen…“
Das farbenfroheste Bild der ursprünglichen Folia gibt aber Sebastián Covarrubias in seinem Tesoro de la Lengua Castellana (Madrid, 1621): „Folia, es una cierta dança Portuguesa, de mucho ruido, porque resulta de ir muchas figuras a pie con sonajas e otros instrumentos, … y es tan grande el ruido, y el son tan apresurado, que parecen estar los unos y los otros fuera de juizio: y assi le dieron a la dança el nombre de folia, siendo de la palabra Toscana, follie, que vale vano, loco, sin seso, que tiene la cabeça vana.“ [„Folia ist ein gewisser portugiesischer Tanz, sehr laut, denn an ihm nehmen viele Leute zu Fuß, mit Rasseln und anderen Instrumenten versehen, teil, … und das Getöse ist so groß und der Klang so hastig, daß sie alle den Anschein erwecken, nicht bei Verstand zu sein; und so wurde der Tanz folia genannt, was vom toskanischen Wort follie kommt, das töricht, wahnsinnig, sinnlos, hohlköpfig bedeutet.“]
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war die Bassstimme der Folia in einer Reihe polyphonischer Stücke vorhanden, die im Cancionero del Palacio enthalten waren. Auf deren Grundlage bauten mehrere kontrastierende melodische Stimmen wie jene der Lieder „Rodrigo Martínez“, „Adorámoste Señor“ oder „De la vida deste mundo“ (letzteres ist das früheste in diesem Album aufgezeichnete Beispiel) auf. 1553 verwendete sie Diego Ortiz in seinem Trattado de glosas als eine jener Ostinato-Bassstimmen, auf denen er aufbauend mehrere Recercadas für Viola da Gamba mit Cembalobegleitung komponierte und mit ihrer zweiteiligen Grundsequenz (A-E-A-G-C-G-A-E, gefolgt von A-E-A-G-C-G-A-E-A) versah. Mit leichten Abänderungen bildet dies auch die Grundlage von Antonio de Cabezóns „Pavana con su glosa“, die 1557 in Venegas de Henestrosas Cembalo-Sammlung mit dem Titel Libro de Cifra Nueva erschien. Obwohl ihre eigentliche Sequenz mit diesem Muster nicht ganz übereinstimmt bzw. die letztliche Struktur des Stücks eine größere rhythmische und formelle Freiheit aufweist, erscheinen ähnliche Harmoniefolgen in zahlreichen Instrumentalwerken der spanischen Musik aus dem 16. Jahrhundert, einschließlich verschiedener Kompositionen der Tres Libros de Música en Cifra de Vihuela von Alonso Mudarra aus dem Jahr 1546.
Während des gesamten 17. und bis gut in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb die Folia eine häufige Erscheinung im iberischen gesungenen und gespielten Repertoire. Die besten Komponisten für die spanische fünfsaitige Barock-Gitarre (oder einfach „spanische Gitarre“, wie sie in ganz Europa bekannt war) wie Gaspar Sanz oder Santiago de Murcia banden sie oft in ihre Sammlungen für dieses Instrument ein, wie in Sanz’ Instrucción de Guitarra española aus dem Jahr 1674 oder Murcias handgeschriebener Sammlung aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, die nun dem so genannten Codex Saldívar Nr. 4 zugeordnet wird. Sogar der größte aller iberischen Komponisten für Tasteninstrumente des ausgehenden 17. Jahrhunderts, der Katalane Joan Cabanilles (1644-1712), erachtete die Pflege dieses Genres neben seinen majestätischen Kontrapunkt-Tientos als seines Talents würdig. Viele dieser Komponisten waren Zeit ihres Lebens nicht nur wegen ihres Virtuosentums am Instrument, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit bekannt, dieses bei langen Improvisationen wohlbekannter musikalischer Themen anzuwenden. Doch in ihrer Eigenschaft als Variationen zur Folia entgeht es einem nicht, dass diese Stücke womöglich nur als Beispiele ihres Improvisationstalents veröffentlicht wurden und die Komponisten selbst wahrscheinlich einen Großteil des geschriebenen Musiktextes bei jedem Abspielen änderten, jedenfalls viel mehr als sie sich jemals trauen würden, dies bei einem strengeren musikalischen Genre zu tun.
Obwohl der Kompositionsstil dieser Stücke gewiss nicht „volkstümlich“ im engeren Sinne, sondern vielmehr das Werk eines talentierten Virtuosen und akademisch gebildeten Komponisten ist, so deutet andererseits die rhythmische Stärke der Musik doch darauf hin, dass dies nach wie vor ein an die gehobene Elite gerichtetes Repertoire ist, das allerdings seinen fernen volkstümlichen Wurzeln viel näher als die ausgefeilteren Instrumentalgenres wie der Tiento oder die Fantasia liegt. Es ist auch faszinierend zu beobachten, wie iberische und lateinamerikanische musikalische Genres dieser Zeit, die eine stark kulturübergreifende Komponente beinhalten – wie die afrobrasilianischen Cumbés der verschiedenen portugiesischen Gitarrensammlungen aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts – oft vorkommende Harmoniefolgen aufweisen, die jenen der Folia sehr ähnlich sind, obwohl sie diese mit nichteuropäischen rhythmischen und melodischen Modellen kombinieren. Dies ist der Fall einer Cachua aus den Anden, die einer in der Mitte des 18. Jahrhunderts vom peruanischen Bischof Baltazar Martínez Compañón erstellten Sammlung indianischer Lieder und Tänze entnommen wurde und einer wahrlichen Neuformung des iberischen Originalmodells durch indianische Musiker entspricht.
Außerhalb der Iberischen Halbinsel kann das harmonische Grundmuster der Folia bis zu einigen Frottole der norditalienischen Musikdrucke aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts zurückgeführt werden. Ebenso ist eine Reihe von instrumentalen Variationen zu einem eindeutigen Thema zur selben Bassstimme in den Werken vieler italienischer Meister aus dem 16. Jahrhundert zu finden. Dieser Bass wurde in Italien jedoch nicht immer als la Folia bezeichnet, sondern war oft unter anderen Namen wie „Fedele“, „Cara Cosa“, „Pavaniglia“ oder „La Gamba“ geläufig. Tatsächlich wurde eines der frühesten bekannten italienischen Beispiele, das der Kapellmeister des Doms zu Verona Vincenzo Ruffo († 1587) 1564 in seine Capricci in Musica aufnahm, „La Gamba in Basso, e Soprano“ genannt. Im 17. Jahrhundert hinterließen mehrere bedeutende italienische Komponisten ganze Reihen an Folia-Variationen: der Lautenspieler Alessandro Piccinini (1566-1638) in seiner Intavolatura di Liuto (Bologna, 1623) für Chitarrone, ein weiterer Lautenspieler, Andrea Falconieri (1585/6-1656), in seinem Il Primo Libro di Canzone (Neapel, 1650) für zwei Violinen und Continuo, der Orgelspieler Bernardo Storace in seiner Selva di Varie compositioni (Venedig, 1664) für Tasteninstrumente sowie der Gitarrist Francesco Corbetta († 1681) in seiner La Guitarre Royale (Paris, 1671) für sein eigenes Instrument.
Corbetta scheint einer der ersten Authoren gewesen zu sein, die dem traditionellen Bass der Folia die typische Sopranmelodie im Dreiertakt mit einem betonten zweiten Taktschlag überlagerte, die ab dem Ende des 17. Jahrhunderts mit diesem Genre in Verbindung gebracht wurde. Gaspar Sanz’ Version aus dem Jahr 1674 war ja im Grunde genommen eine weitgehende Adaptierung von Corbettas Modell, das der spanische Meister kurz nach dessen Veröffentlichung in Paris übernommen haben dürfte. Diese gleiche Kombination der höheren Stimme und des harmonischen Basses war in ganz Europa weit verbreitet und wurde zu einem Lieblingsobjekt für Variationen, zunächst in Frankreich, wo Lully und Marais davon Gebrauch machten, und später in Deutschland, den Niederlanden und England, wo der Verleger John Playford (1623-1687/88) eine Reihe von Folia-Variationen für Violine in seine instrumentale Sammlung The Division Viol (London, 1685) unter dem Titel „Faronell’s Division“ aufnahm, die traditionell in jenem Land wohl mit der Folia in Verbindung gebracht wurde. Gleichzeitig verbreiteten die erfolgreichsten französischen und italienischen Abhandlungen über Tanz jener Zeit, wie jene von Feuillet (1700) und Lambranzi (1716), die Melodien und Grundschritte dieser „Folie d’Espagne“ quer über den gesamten europäischen Markt.
Mit der Entwicklung des virtuosen Violinrepertoires zur Jahrhundertwende war es nur selbstverständlich, dass die Folia auch daran teilhatte. Der große Arcangelo Corelli (1653-1713) benutzte sie 1700 als Grundlage für eine Reihe übermäßig virtuoser Variationen, mit denen er seine bedeutendste Sammlung an Solosonaten für Violine und Continuo, die berühmte Op. 5, abschloss, deren Inhalt bekanntermaßen als Manuskript bereits über ein Jahrzehnt vor ihrem Druck im Verkehr war. Einer der repräsentativsten Violinkomponisten der deutschen und holländischen Schule, Henricus Albicastro, Künstlername von Johann Heinrich von Weissenburg (ca. 1660-ca. 1730), veröffentlichte 1704 eine „La Follia“ genannte Sonate, die in ihrer virtuosen Schreibweise einen deutlichen Corellischen Einfluss aufweist. Es ist auch nicht von ungefähr, dass ein Jahr später, also 1705, der junge Antonio Vivaldi (1678-1741) sich ebenfalls zu einer entscheidenden Veröffentlichung entschied, in die er seine größten Hoffnungen für die Zukunft seiner künstlerischen Laufbahn setzte, nämlich seine Sammlung von Trio-Sonaten Op. 1, die eine weitere großartige Reihe an Folia-Variationen beinhaltet.
Somit hatte es der alte portugiesische Bauerntanz weit gebracht. Ganz am Ende der Barockzeit blieb er nach wie vor als einer der am stärksten verbindenden Züge der europäischen Instrumentalmusik, eine wohlbekannte Grundlage, auf der Musiker aus allen Ländern über sprachlich oder durch Musiktraditionen bedingte Barrieren hinweg gemeinsam improvisieren konnten, sowie eine erfolgreiche Inspirationsquelle für jeden Komponisten, der die europäische Musikgemeinschaft insgesamt mit seinem Können zu beeindrucken beabsichtigte. Die Klassik war dagegen bei ihrer Suche nach größeren formellen Strukturen innerhalb der Musik nicht so sehr an Ostinato-Bässe interessiert; trotzdem wurde die Folia noch hin und wieder von Romantikern aufgegriffen, so zum Beispiel durch große Meister wie Liszt oder Rachmaninow.

RUI VIEIRA NERY
Universität Évora

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