A. VIVALDI – JUDITHA TRIUMPHANS

Jordi Savall, La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations

29,99


Das Oratorium Juditha triumphans stellt den Höhepunkt von Vivaldis Vokalmusik dar. Die überwältigende Schönheit der Arien und Chorgesänge, die kompakte Dramatik der Rezitative und die reiche Instrumentierung ergeben zusammen eine der gelungensten und faszinierendsten Kompositionen dieses Genres. So trägt das Oratorium dazu bei, dem wegen seiner Concerti und der „Jahreszeiten“ so gepriesenen Komponisten den ihm gebührenden Platz zuzuweisen, nämlich den eines der größten Komponisten der barocken Vokalmusik.

 


Juditha triumphans von Vivaldi

Ab 1714 befand sich die Republik Venedig zum siebten Mal im Krieg gegen die Türken; es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Kriegsjahre (1714-1718) sich (zwei Jahrhunderte früher) mit denen des Ersten Weltkriegs decken. Zunächst sah die Lage für Venedig nicht günstig aus, hatte es doch schon die Einnahme des Peloponnes in der Ägäis und die Belagerung Korfus hinnehmen müssen. Militärische Verstärkung war unbedingt erforderlich.

Anfang 1716 gelang es Venedig dank des Einschreitens der Habsburger, das Blatt zu wenden. Am 5. August war der mutige, ruhmreiche Prinz Eugen von Savoyen in der Lage, den Widerstand des osmanischen Heers in der Schlacht von Peterwardein (heute einer der beiden Ortsteile von Novi Sad, Serbien) zu brechen und einige Wochen später konnten die Venezianer schließlich den Angriff auf Korfu zurückschlagen, was für die Türken eine empfindliche Niederlage bedeutete.

Zur Feier des Ereignisses komponierte Vivaldi Juditha triumphans, „oratorio militare sacro“ eines seiner bedeutendsten religiösen Werke, das die Venezianer an ihren Krieg gegen das Osmanische Reich erinnerte, ganz besonders die schreckliche Belagerung der Insel Korfu, die für die Serenissima Repubblica in der Adria eine vitale strategische Bedeutung besaß. Judith steht auf diesem Hintergrund für die Adria, also Venedig, und Holofernes für den Sultan.

Kurz zuvor, am 24. Mai, war Vivaldi, nach anfänglichem Zögern des Gouverneurs, erneut als maestro de’ concerti an das Pio Ospedale della Pietà berufen worden und offensichtlich fest entschlossen, sein patriotisches Engagement mit dem Willen zu vereinen, das neue Kapitel seiner Laufbahn durch eine bemerkenswerten Komposition einzuweihen. Einige Monate später bewilligte das Heilige Offizium der Inquisition das Giacomo Casetti in Auftrag gegebene Libretto. Der Dichter, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen und zur selben Zeit lebenden venezianischen Bildhauer, stammte vielleicht aus dem Hinterland und war auf dem venezianischen Kontinent freischaffend tätig. Er hatte zwei Libretti für Oratorien auf Italienisch verfasst, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Montselice und Padua aufgeführt wurden. Zwischen 1716 und 1717 war er in Venedig tätig, wo er sich dem Verfassen von Oratorienlibretti in lateinischer Sprache widmete (teils für Vivaldi, teils für Carlo Francesco und Antonio Pollarolo).

Vivaldis Sinn für die Klangfarben der Instrumente war berühmt, doch selten kam er in seinen Opern zum vollen Einsatz. Bestenfalls waren ein oder zwei mit einer neuen Instrumentierung komponierte Arien zugelassen. Ganz anders verhielt es sich nun, da das Oratorium im November 1716 an das Ospedale della Pietà vergeben worden war. Dessen ganzer Instrumentenbestand wurde herangezogen um den großen Triumph über die Türken zu feiern: zwei Trompeten und Pauken (für die Kriegsfanfare und den Chor der Ouvertüre) zwei Blockflöten (zur Evozierung der Holfernes’ Zelt umfächelnden nächtlichen Brise in der Arie Umbrae carae, aurae adoratae), zwei Oboen (ein Oboensolo begleitet Holofernes’ Liebeswerben in der Arie Noli, o cara te adorantis), eine Sopran-Schalmei, alte entfernte Vorfahrin der Klarinette (zur Nachahmung des Gurrens einer Turteltaube in Veni, veni, me sequere fida), zwei Klarinetten (zur Darstellung des Gelages im Chor der assyrischen Soldaten Plena nectare non mero), vier Theorben (zur Beschreibung des Hin und Her der Dienerschaft bei der Zubereitung des Banketts in O servi volate), eine Mandoline (deren zarter Klang die Schimäre des Lebens in Transit aetas veranschaulicht), eine Viola d’amore (um Judiths Sanftheit in Quanto magis generosa auszudrücken), ein ganzes Ensemble von viole all’inglese, wie die Gamben in Venedig genannt wurden (zur Begleitung von Judiths großem Gebet Summe Astrorum Creator vor ihrer Schicksalstat), außerdem eine Solo-Orgel, ein Cembalo und das übliche Streichorchester. Viele der genannten Instrumente wurden in Italien kaum verwendet und die Tatsache, dass sie von jungen Interpretinnen statt von Berufsmusikern gespielt wurden, vergrößerte noch das Faszinosum. Der Einsatz der in der Kirchenmusik Vivaldis und anderer venezianischer Komponisten selten zu hörenden Trompeten und Pauken erklärt sich durch den kriegerischen Stoff des Librettos.

Nicht weniger wichtig als die militärischen Operationen in der Ägäis war die, heute würden wir sagen „propagandistische“, Arbeit auf dem venezianischem Land und dazu war die Musik hervorragend geeignet.

Ein Beispiel: In den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts, als der 6. Österreichische Türkenkrieg wütete und die Türken Wien belagerten, erlebten die Wiener Opernhäuser eine blühende Renaissance heroischer, patriotischer militärischer und unterhaltsamer Stücke, mit denen man versuchte, die Angst vor den Türken auszutreiben (etwa Giustino von Nicolò Beregani, 1683, in einem belagerten Konstantinopel angesiedelt, oder Clearco in Negroponte von Antonio Arcoleo, 1685, das auf einer Insel in der Ägäis spielt).

Auf gleiche Weise haben Antonio Vivaldi und der Librettist Giacomo Cassetti im Jahr 1716 ihren Beitrag zum Kriegsgeschehen geleistet. Die Geschichte der biblischen Heroine Giuditta, die den assyrischen Kommandanten Holofernes verführt, ihm am Ende eines Banketts, nachdem er betrunken eingeschlafen ist, den Kopf abschlägt und dadurch die israelitische Stadt Bethulien befreit, hat sich mit der Zeit zu einem Klassiker der Oratorienstoffe entwickelt, vor allem da, wo man heldenhafte Taten und Kriegstugenden feiern musste. Vor Vivaldi wurde das Thema von den berühmtesten Komponisten der Epoche Marc’Antonio Ziani (1686) und Alessandro Scarlatti (1695 und 1700) behandelt und nach Vivaldi erzielte Metastasios Libretto „Das befreite Bethulien“ vor allem durch die Kompositionen von Jommelli und Mozart einen riesigen Erfolg.

Strukturell gesehen, folgt Vivaldis Oratorium Juditha einem klaren Aufbau. Jeder seiner beiden Teile enthält vierzehn unabhängige Stücke (Arien und Chöre) und die Pause „zur Erfrischung, erfolgt sehr passend“ – wie Michael Talbot hervorhebt – „kurz nachdem Vagaus den Dienern befohlen hat, das Bankett vorzubereiten“. Die Chöre sind umfangreicher und länger als in einer Oper. In Übereinstimmung mit den jüngsten Forschungen haben wir uns entschlossen, sie nur mit Frauen zu besetzen, da ja auch das Ospedale eine rein weibliche Einrichtung war. Aus demselben Grund besetzte Vivaldi die fünf Gesangsrollen mit weiblichen Interpreten von ähnlichem Stimmumfang, nur die Stimmen von Vagaus und Abra sind höher. Wir haben Sängerinnen mit stark kontrastierendem Timbre und Charakter gewählt, um die verschiedenen Figuren klar voneinander zu unterscheiden.

Das Buch Judith erzählt, wie Nebukadnezar unter dem Oberbefehl von Holofernes eine Armee zu einer Strafexpedition nach Judäa schickt, weil es sich geweigert hat, Steuern zu bezahlen, die einen Krieg gegen die Meder hätten finanzieren sollen. Judith, eine junge Witwe von Bethulien entwirft einen Plan um die Stadt zu retten. Zusammen mit ihrer Magd Abra geht sie ins Lager der Assyrer und berichtet Holofernes, dass Gott die Judäer bald im Stich lassen wird, weil sie ungehorsam waren, Holofernes solle sich nur gedulden. Holofernes glaubt ihr nicht nur, sondern erliegt völlig ihrem Zauber. Nach einem Fest zu Ehren von Judith verliert Holofernes volltrunken das Bewusstsein, was Judith ausnutzt, um ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf abzuschlagen. Als Vagaus Alarm schlägt, sind Judith und Abra bereits entkommen. Die Judäer gehen zum Gegenangriff über und schlagen den völlig demoralisierten Feind in die Flucht. Am Ende erhält Judith das Vermögen des Holofernes, Abra wird die Freiheit geschenkt und der Ammoniterfürst Achior bekehrt sich zum Judentum.

Für das Oratorium wählte der Librettist Giacomo Cassetti eine moderne, von der bisher üblichen Dramaturgie abweichende Form ohne Erzähler (historicus), was einen größeren Realismus und die unmittelbare Darstellung der Handlung erlaubte, andererseits aber eine unvermeidliche Vereinfachung der Geschichte mit sich brachte, da die Handlung, wie in der Oper, nur noch von den Worten und Taten der agierenden Personen vorangebracht wurde.

Vivaldis Partitur enthält nicht die übliche Symphonie, so dass wir uns für das Concerto RV 562 entschieden haben, dessen Tonalität, Art und nicht zuletzt das Entstehungsdatum am besten zum Thema des Oratoriums passen.

Michael Talbot, der große Verdi-Experte hebt ganz richtig hervor:

Der ungewöhnlichste, beunruhigendste Aspekt von Juditha triumphans – besonders für heutige Zuhörer – besteht vermutlich in der Zweideutigkeit der Persönlichkeit von Holofernes und Vagaus. Die biblische Geschichte schreibt ihnen die Rolle von Bösewichten zu (per definitionem, denn sie sind Feinde des Volks der Heiligen Schrift) und Cassetti strengt sich an, sie im selben Licht erscheinen zu lassen, doch ihm fällt nichts Schlimmeres ein, als Holofernes eine kleine kriegerische Prahlerei in den Mund zu legen, um die Unerträglichkeit seiner Person anzudeuten, während Vagaus immer der perfekte Adjutant ist, freundlich, höflich und gehorsam. Der Inspiriertheit der Arien nach zu urteilen, scheint Vivaldi sich beim Komponieren mit diesen Figuren identifiziert zu haben, ähnlich wie Mozart mit seinem Don Giovanni. Die Folge davon ist, dass der brutale Tod des Holofernes, unabhängig davon, was wir denken sollen, uns eher anwidert als zufriedenstellt. Unser Verstand sagt uns, dass wir das Oratorium als eine Geschichte mit einem guten Ausgang „lesen“ sollen, aber unsere Gefühle raten uns das Gegenteil.

Das Oratorium Juditha triumphans stellt den Höhepunkt von Vivaldis Vokalmusik dar. Die überwältigende Schönheit der Arien und Chorgesänge, die kompakte Dramatik der Rezitative und die reiche Instrumentierung ergeben zusammen eine der gelungensten und faszinierendsten Kompositionen dieses Genres. So trägt das Oratorium dazu bei, dem wegen seiner Concerti und der „Jahreszeiten“ so gepriesenen Komponisten den ihm gebührenden Platz zuzuweisen, nämlich den eines der größten Komponisten der barocken Vokalmusik.

JORDI SAVALL
Bellaterra, 6. Juli 2019

Übersetzung: Claudia Kalász

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