LA LIRA D’ESPERIA
Jordi Savall
Alia Vox Heritage
15,99€
Die Fidel erklingt in sanften Kadenzen,
Manchmal leise ermattend, dann wieder laut jubelnd,
Sanfte, volle Stimmen, klar und trefflich im Ton,
So erfreut sie die Menschen und stellt alle zufrieden.
Arcipreste de Hita ca. 1330
ALIA VOX AVSA9942
Heritage
CD : 54’54
LA LIRA D’ESPERIA
La Vièle Médiévale
The Medieval Fiddle
CD
I
- 1.ROTUNDELLUS* – Trad. Galicia – CSM 105
- 2.LAMENTO* – Trad. Adrianopoli, Séfarade
- 3.DANZA DE LAS ESPADAS* – Trad. d’Algérie, El Kantara
- 4.ISTAMPITTA : IN PRO – Italie : Trecento mss.
- 5.SALTARELLO Italie : Trecento mss.
II
- 6. RITUAL* – Trad. Algérie, Zendani
- 7. EL REY DE FRANCIA* – Trad. Smyrne (Izmir), Séfarade
- 8. DANZA RITUAL* – Trad. Galicia – CSM 353
- 9. ISTAMPITTA : LA MANFREDINA – Italie : Trecento mss.
- 10. TROTTO – Italie : Trecento mss.
III
- 11. ALBA* – Trad. Castelló de la Plana
- 12. PAXARICO TU TE LLAMAS* – Trad. Sarajevo, Séfarade
- 13. DANZA DEL VIENTO * – Trad. Algérie, Berbère
- 14. ISTAMPITTA : LAMENTO DI TRISTANO – Italie : Trecento mss.
- 15. SALTARELLO – Italie : Trecento mss. 2’27
IV
- 16. DUCTIA* – Trad. Galicia – CSM 248
*Récréations & réalisations musicales de Jordi Savall
JORDI SAVALL
PEDRO ESTEVAN
Enregistrement réalisé à la Collégiale du Chateau de Cardona (Catalogne) en 1994
par Nicolas Bartholomée. Montage numérique : Anne Fontigny et Manuel Mohino (Musica Numéris)
Mastering SACD : Manuel Mohino (Ars Altis).
Die Lyra Hesperiens
1100-1400
Die Lyra gehört zu den ersten Musikinstrumenten, die in der griechischen Mythologie beschrieben werden, und seit Vergil (70-19 v. Chr.) wird sie neben der Kithara[1] am häufigsten erwähnt. Nach der griechischen Legende erfand Apollo die Lyra, während die Erfindung der Kithara Orpheus zugeschrieben wird.
Seit uralten Zeiten findet man immer wieder Hinweise auf die Macht und den außergewöhnlichen Einfluss der Musik und der Instrumente auf Menschen, Tiere und sogar auf Bäume und Pflanzen. Eben diese Gabe schrieb man Orpheus zu, und dank seiner magischen Fähigkeiten und Talente als Musiker wurde er zu einer der geheimnisvollsten, symbolträchtigsten Figuren der griechischen Mythologie. Der uralte Mythos verwandelte sich beinahe in eine Religion, wozu eine Fülle von Literatur, häufig esoterischen Charakters, geschrieben wurde. Orpheus ist der Musiker schlechthin; man sagte ihm nach, dass er so verzückende Melodien spielen konnte, dass ihm die wilden Tiere folgten, Bäume und Pflanzen sich vor ihm verneigten, und er auch die wildesten Männer zur Ruhe bringen konnte.
Mit dem Namen Hesperien (Esperia auf Italienisch) bezeichnete man die beiden westlichsten Halbinseln Europas, die italienische und die iberische. In den äußersten westlichen Breiten Hesperiens sollen laut Diodor auch die Hesperiden bzw. Atlantis gelegen haben, jene berühmten Gärten, in denen goldene Äpfel wuchsen (Orangen oder Zitronen?), die magische Kräfte besaßen.
Und im iberischen Hesperien war es auch, wo man die ersten Spuren von Streichinstrumenten fand. Da diese dort im Altertum und im frühen Mittelalter unbekannt waren, liegt die Vermutung nahe, dass die Streichtechnik aus arabisch-islamischen Ländern in den europäischen Raum gelangte und sich dann langsam aber sicher auch in Europa weiterentwickelte. Man braucht sich nur die arabische und byzantinische Hochkultur des 10. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen und die große Bedeutung des Kulturaustauschs, der häufig mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West einherging. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die ersten Darstellungen von Streichinstrumenten im europäischen Raum nach dem 10. Jahrhundert in den mozarabischen Manuskripten des Beatus von Liébana (ca. 920-930) in Spanien erschienen, sowie in verschiedenen katalanischen Handschriften, wie etwa der Bibel von Ripoll des Klosters Santa Maria de Ripoll.
So wird dann auch die Fidel zu einem der beliebtesten Instrumente der Troubadoure[2], der Spielleute[3] und besonders der Edelleute, die man nicht nur wegen ihrer Kriegskunst, sondern auch wegen ihrer Feinfühligkeit schätzte, mit der sie auf der Fidel spielten, wie man zahlreichen Texten aus jener Zeit entnehmen kann. Auch Bilder machen dies deutlich, wie beispielsweise das Schild aus dem Jahr 1168, das Bertran II., den Grafen von Forcalquier (Provence), auf der einen Seite bewaffnet auf dem Pferd und auf der anderen auf einer Fidel spielend darstellt. Deshalb spricht man auch vom noble joglere, denn unter den Edelleuten diente diese Tätigkeit, im Gegensatz zu den Spielleuten, nicht dem Broterwerb, sondern dem reinen Vergnügen; sie zählt also schon zu den exercitia liberalia (den freien geistigen Übungen). Die Fidel wird damit neben der Harfe zum festen Bestandteil des höfischen und des herrschaftlichen Lebens.
Trotz all dieser wichtigen Hinweise in Wort und Bild steht fest, dass vor dem 13. Jahrhundert kaum echte Streichinstrumente existierten. Das erste fünfsaitige Streichinstrument (etwa 1250-1270) fand man 1941 während Ausgrabungsarbeiten in Polen. Um die Eigenschaften und Funktionsweise jener Instrumente richtig verstehen zu können, ist es deshalb wichtig, ein Maximum an Informationen aus den folgenden Quellen zu sammeln:
I – Bildliche Darstellungen aus dem gesamten Mittelalter zeigen Instrumente an Kapitellen, Kreuzgängen, auf Fresken, Gemälden, Kirchenfenstern, in Bilderhandschriften usw.
II – Geschichtsschreibung und Literatur bieten ab dem 10. Jahrhundert zahlreiche Hinweise zu Musikinstrumenten, Spieltechnik, Bauweise, Funktion, usw. in Chroniken und anderen literarischen, philosophischen oder musikbezogenen Schriften.
III – Musikalische Informationen aus noch erhaltenen Originalpartituren oder aus Werken, die auf der Grundlage von Manuskripten damaliger Vokalmusik zu rekonstruieren sind.
IV – Überlieferte Werke aus dem nicht schriftlich übermittelten Volksmusikschatz, die dank zahlreicher Forschungsarbeiten zusammengetragen werden konnten, und die sich historisch und formal im Reinzustand befinden.
Zur Bearbeitung dieses mittelalterlichen Repertoires mussten zunächst einige grundlegende Probleme geklärt werden: Welche Instrumente? Welcher Klang? Welche Musik?
Was die Instrumente betrifft, so haben wir vier verschiedene, mit Darmsaiten bestückte Arten gewählt:
- Eine atypische Form eines frühen Rebab, aus dem Orient (Afghanistan), wahrscheinlich Ende des 14. Jahrhunderts. Auf der iberischen Halbinsel als rabel morisco (maurische Hirtengeige) bekannt. Laut al-Fārābī (ca. 870-950) handelt es sich um das Instrument, das der menschlichen Stimme am nächsten kommt.
- Eine fünfsaitige Sopranfidel eines unbekannten italienischen Baumeisters (wahrscheinlich aus dem 15. Jahrhundert).
- Eine fünfsaitige Tenorfidel, Nachbau eines anonymen Instruments aus dem 14. Jahrhundert (Guy Derat, Paris 1980).
- Eine sechssaitige Streichlyra eines unbekannten italienischen Baumeisters (wahrscheinlich Anfang des 16. Jahrhunderts).
Wenn wir die bildlichen Darstellungen, die Form der Instrumente, die Bogenarten und die verwendeten Saiten betrachten, so wird deutlich, dass das Klangideal jener Zeit stark von dem unseren abweichen musste. Nur der Klang und die Technik einiger Volksinstrumente, die heute noch in Griechenland (Kreta), Mazedonien, Marokko, Indien usw. gespielt werden, können uns annähernd vermitteln, wie die Volks- bzw. Tanzmusik damals geklungen haben wird: archaisch, sehr urtümlich, aber voller Leben und ausdrucksstark; oder aber im Fall lyrischer, poetischer oder höfischer Musik, weitaus feiner und wohlklingender, wie der Erzpriester von Hita um 1330 in seinem Buch Libro de Buen Amor es beschreibt:
Die Fidel erklingt in sanften Kadenzen,
Manchmal leise ermattend, dann wieder laut jubelnd,
Sanfte, volle Stimmen, klar und trefflich im Ton,
So erfreut sie die Menschen und stellt alle zufrieden.
Was die Musikauswahl betrifft, so haben wir uns für Werke ganz gegensätzlicher Herkunft entschieden:
- Während des italienischen Trecento entstandene Kompositionen und die Cantigas de Santa Maria, eine Liedersammlung von Alfons X., dem Weisen.
- Nicht schriftlich überlieferte Werke sehr alter, traditioneller Volksmusik, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Forschern gesammelt und studiert worden sind.
All diese Musikstücke haben einen engen Bezug zur ureigenen Kulturwelt des alten Hesperiens, wo die drei Hauptkulturen des Mittelmeerraums, die jüdische, die islamische und die christliche, jahrhundertelang koexistierten. Aus diesem Grund setzt sich das Programm aus drei großen Teilen und einem abschließenden Stück zusammen. Jeder Teil enthält jeweils ein Werk der drei genannten Kulturen und eine Gruppe mit zwei höfischen Kompositionen aus dem italienischen Trecento, die dem Manuskript add. 29987 des Britischen Museums entnommen sind.
Wie Johannes de Grocheo[4] in seinem Traktat Ars Musicae beschreibt, erfüllten die verschiedenen musikalischen Formen jener Epoche je nach Inhalt und Charakter auch unterschiedliche Funktionen; er erwähnt den cantus gestualis, cantus coronatus, cantus versualis, die cantilena rotunda, und im Bereich der Instrumentalmusik rotundellus, ductia und stantipes[5].
Seiner Meinung nach ist die Fidel unter allen Streichinstrumenten dasjenige, das am meisten Wonne schenkt, und er geht sogar noch weiter: la vielle in se virtualiter alia continet instrumenta (sie ist in der Lage, viele andere Instrumente zu ersetzen). Natürlich, so fügt er hinzu, entflammen auf Festen, Turnieren und beim Lanzenbrechen auch Trommeln und Trompeten die Menschen, doch in viella tamen omnes forma musicales subtilius discernuntur. (Ein guter Fidelspieler müsste jede Art von Lied und Kantilene, ja überhaupt jegliche Art von Musik spielen können.)
Obwohl das Programm auf einem Höchstmaß an historischem und musikalischem Wissen basiert, wird hier nicht der Anspruch erhoben, eine hypothetische Rekonstruktion eines Konzerts jener Zeit zu bieten oder musikwissenschaftliche Forschung auf der Grundlage von nie mit völliger Sicherheit feststellbaren Tatsachen zu betreiben.
Es handelt sich hier vielmehr um den Versuch einer Rekreation – inspiriert vom ureigenen Stil der verschiedenen Kulturen – einer bestimmten Tonkunst aus anderen Zeiten und in gewisser Weise um eine Hommage für all jene Spielleute und Liederdichter, die fest daran glaubten, dass sie mit der Musik „die Seelen bewegen konnten, hin zu Kühnheit und Stärke, zu Großmut und Anstand, alles Dinge, die die gute Ordnung der Völker adeln“.
Ut eorum animos ad audaciam et fortitudinem magnanimitatem et liberalitatem commoveat, quae omnia faciunt ad bonum regimentum.
JORDI SAVALL
Bellaterra, im Herbst 1995
Übersetzung: Imme Werner
[1] Die griechische Lyra, deren Resonanzkörper ursprünglich aus einem Schildkrötenpanzer gemacht war, wurde bei der Musikerziehung eingesetzt und war Instrument der Amateure. Die Kithara, mit ihrem Holzkörper war das Instrument der professionellen Musiker; mit ihr trat man bei Wettbewerben und Festivals auf.
[2] Die Troubadoure waren Lyriker, die zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert in Südfrankreich, Ostspanien und Norditalien lebten. Sie sangen auf Okzitanisch und ihre Lieder hatten hauptsächlich ritterliche und galante Themen. Die herumziehenden Spielleute und Gaukler wurden auch manchmal zu den Troubadouren gerechnet.
[3] Im Mittelalter waren die Gaukler herumziehende Spielleute, die für jede Art von Unterhaltung sorgten: Sie sangen, sie spielten ein Instrument, sie komponierten Balladen, sie erzählten Geschichten, sie traten als Zauberer und Jongleure auf usw.
[4] Johannes de Grocheo: Franzose, Musiktheoretiker, Hauptschaffenszeit gegen 1300.
[5] Grocheo unterteilt die musica vulgaris (in der Landessprache) in zwei Kategorien: den cantus und die cantilena. Diese zerfielen sogleich wieder in drei Unterabteilungen. Die drei Formen des cantus waren der cantus gestualis, der cantus coronatus und der cantus versiculatus (oder cantus versualis). Offensichtlich bezeichnete der Ausdruck cantus gestualis die Gattung der „Chanson de geste“, also das Heldenepos, aber die Unterscheidung der anderen beiden Ausdrücke liegt nicht so klar auf der Hand. Als cantilena bezeichnete man Formen des profanen Refrains, den Grocheo mit der Musik Nordfrankreichs identifizierte – daher auch die dreifache Unterteilung in rotundellus (Rondo) und (ohne Text) stantipes (Estampie) und ductia. Die ductia war eine Instrumentalkomposition ohne Text mit einem regelmäßigen Rhythmus. Die Stücke mit dem Titel „Tanz“ im Manuscrit du Roi (Königliches Liederbuch) sind ein Beispiel dafür. (Zu allen behandelten Gegenständen siehe die Artikel von H. Vanderwerf und E. H. Sanders im Grove Dictionary of Music and Musicians.)
Compartir